Mainz (KNA) Die höchsten Positionen in katholischen Bistümern wie Bischof und Generalvikar sind geweihten Personen und damit Männern vorbehalten. Doch das Bistum Mainz hat seine Leitungsstruktur mit einem bundesweit neuen Modell grundlegend geändert: Dort gibt es seit einem halben Jahr eine Bevollmächtigte des Generalvikars. Die Theologin Stephanie Rieth (47) begründet in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), warum sie ihr Amt für einen «Quantensprung» hält. Reaktionen aus dem Vatikan hat sie bislang aber nicht erhalten.
KNA: Frau Rieth, gab es kritische Anfragen, weil Sie als Frau dieses hohe Amt in der Spitze einer Diözese ausüben?
Rieth: Nein, weil wir das von vorneherein nicht als Frauenthema kommuniziert haben. Klar ist aber: Es ist die Beteiligung von einer nichtgeweihten Person, einem Nichtpriester, am obersten Leitungsamt in unserem Bistum.
KNA: Es gibt ja in manchen anderen Bistümern eine «Amtschefin», also Leiterin des Ordinariats. Sie aber sind die einzige Bevollmächtigte eines Generalvikars, vertreten ihn in allen Belangen nach außen und innen und nehmen auch eigenverantwortlich Aufgaben des Generalvikars wahr...
Rieth: Ja, das Modell gibt es sonst bundesweit nicht. Bischof Peter Kohlgraf und Generalvikar Udo Markus Bentz haben damit ein neues Amt geschaffen, das unsere Bistumsarchitektur verändert hat. Dieses Amt ist auf jeden Fall ein Quantensprung, weil es das in dieser Grundsätzlichkeit bisher in Deutschland nicht gegeben hat. Wir verlassen damit nicht den Boden des Kirchenrechts. Aber ich spüre Tag für Tag, dass wir Pionierarbeit machen.
KNA: Gab es seit Ihrem Amtsantritt eine Reaktion oder Glückwünsche aus dem Vatikan?
Rieth: Nein. Glückwünsche habe ich keine bekommen aus dem Vatikan.
KNA: Bis heute gab es also gar keine Reaktion aus Rom - auch keine informelle?
Rieth: Nein, keine.
KNA: Überrascht Sie das?
Rieth: Es überrascht mich insofern nicht, als diese Neuerung vielleicht noch gar nicht so bekannt ist oder aber auch nicht so interessant, denn die Möglichkeit, dieses Amt zu schaffen liegt im Rahmen der Gestaltungsvollmacht eines jeden Diözesanbischofs. Dennoch braucht es Mut, denn es geht um einen Wandel im kirchlichen Leitungsverständnis.
KNA: Gibt es Signale aus anderen Bistümern, ein ähnliches Modell einrichten zu wollen?
Rieth: Ja. Ich nenne keine Namen, aber ich weiß, dass es Interessensbekundungen von Generalvikaren aus anderen Diözesen gibt, die wissen wollen, wie wir das konkret machen.
KNA: In den vergangenen Wochen und Monaten gab es aus dem Vatikan Äußerungen, die den Reformweg in Deutschland scharf kritisierten. Macht Sie das zornig?
Rieth: Ja, als engagierte katholische Christin macht mich das zornig. Da ist Unverständnis, auch ein Stück Resignation.
KNA: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für Ihr Amt?
Rieth: Ich habe keine übersteigerten Erwartungen an mein Amt. Ich will zusammen mit dem Weihbischof, Generalvikar Udo Markus Bentz, den Rahmen, den das Kirchenrecht vorgibt, sehr wohl ausreizen, und ihn mit allen Möglichkeiten ausgestalten. Aber wir gehen bewusst nicht darüber hinaus, weil wir zeigen wollen: Reform ist möglich, im System. Es braucht aber einen langen Atem und man holt sich auch mal ein blaues Auge. Als Ziel setze ich mir zum Beispiel nicht das Frauenpriestertum. Daran würde ich mich abarbeiten, auch wenn ich überzeugt bin, dass es das eigentlich bräuchte.
KNA: Auf was muss die Kirche der Zukunft verzichten?
Rieth: Wir werden den Gebäudebestand im Bistum aus finanziellen Gründen drastisch reduzieren müssen.
KNA: Um die Hälfte?
Rieth: Ja, um die Hälfte. Wenn es in einem Pastoralraum vier Pfarreien mit vier Pfarrzentren gibt, dann werden wir uns entscheiden müssen, zwei abzugeben. Bis 2026 müssen alle 46 neuen Pastoralräume entscheiden, was sie wie abgeben. Auch Kirchen werden aufgegeben oder umgewidmet werden.
KNA: Sie sind zuständig für die Missbrauchsthematik im Bistum Mainz. Was hat Sie dabei am meisten erschüttert?
Rieth: Erschüttert hat mich, dass Missbrauch in diesem Ausmaß und der vielgestaltigen Herangehensweisen der Täter möglich war. Verstörend sind nicht nur die strafrechtlich klar verurteilbaren Taten, sondern auch Grenzverletzungen, die strafrechtlich wegen «Geringfügigkeit» nicht verfolgt werden, aber so sehr dem Anspruch von Kirche-Sein widersprechen.
KNA: Laut Bischof Kohlgraf wird die im März 2023 erwartete Missbrauchsstudie im Bistum Mainz Menschen tief erschüttern. Was genau wird für Erschütterungen sorgen?
Rieth: Erschüttern wird die Menschen, dass ganz klar zu Tage treten wird, dass auch im Bistum Mainz Fehler gemacht wurden, und zwar nicht nur harmlose Fehler.
KNA: Wie wird sich die Mainzer Studie von den Untersuchungen in anderen Bistümern unterscheiden?
Rieth: Die Erschütterung wird nicht so sehr wie in Köln oder München in der Fülle der aufgeführten Einzelfälle liegen. Vielmehr erhoffe ich mir von der Mainzer Studie, dass wir in puncto gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung in eine neue Phase kommen. Wir müssen an systemische Ursachen des Missbrauchs in der katholischen Kirche dran. Wir haben Situationen in der Vergangenheit, bei denen nicht nur die Kirche mit den jeweiligen Missbrauchsfällen befasst war, sondern auch gesellschaftliche «Player» wie Jugendämter,
Behörden und Staatsanwaltschaften. Es gab kein isoliertes Vorgehen in diesen Fragen.
KNA: Der Autor der Mainzer Studie, Rechtsanwalt Ulrich Weber, hat bereits von einem Fehlverhalten der früheren Mainzer Bischöfe Kardinal Hermann Volk und Kardinal Karl Lehmann im Umgang mit Fällen sexueller Gewalt gesprochen. Waren das nur Fehler oder auch bewusste Vertuschungen?
Rieth: Da sind sicher Dinge geregelt, geklärt oder vermeintlich gelöst worden, wie ich sie heute nicht mehr lösen würde. Denn wir lernen erst in der jüngeren Vergangenheit, konsequent die Betroffenenperspektive einzunehmen.