Otto Scharmer bezeichnet Absencing und Presencing als zwei sehr unterschiedliche soziale Felder, welche beide in unserer heutigen Welt vorhanden sind und wirken. Während Absencing für ein toxisches soziales Feld der Kälte, Abspaltung und Traumatisierung steht, beschreibt der Presencing-Prozess ein Feld voller, Wärme, Zugewandtheit, Achtsamkeit und Co-Kreation.
Im Presencing vollzieht eine Person eine Bewegung des Hinschauens (kognitive Ebene), Hinspürens (emotionale Ebene) und Präsent-werdens, also eine Bewegung der Öffnung und Verbindung mit Anderen. Aus dieser achtsam zugewandten und sehr offenen Haltung heraus wird gemeinsames, empathisches, schöpferisches Handeln möglich.
Absencing bezeichnet einen gegenteiligen Prozess: eine Person verschließt die Augen und leugnet teilweise Offensichtliches (kognitive Ebene), wodurch auch eine emotionale Taubheit – kein Erspüren – möglich wird, was wiederum ein Abspalten/ Absencing auf allen Ebenen begünstigt. Dies ist die Basis für das Verantwortlichmachen Anderer, oft in Verbindung mit verbaler und emotionaler Gewalt (Beschuldigen), und im nächsten Schritt auch die Anwendung direkte Gewalt und Zerstörung.
Grundsätzlich hat jede:r Einzelne von uns zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, zwischen beiden Feldern zu wählen und sich entsprechend zu verhalten. Ebenso verhält es sich auf der kollektiven Ebene, im Kontext von Gruppen jeglicher Größe und in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Auf der persönlichen Ebene bedeutet dies, dass es in meiner Verantwortung liegt, mir in meinem Alltagshandeln (1) dieser Wahlmöglichkeit zwischen Absencing und Presencing gewahr zu werden und (2) möglichst eine Haltung einzunehmen, die den Presencing-Prozess bei mir und Anderen ermöglicht.
Ein Beispiel: Ich stehe nach einem langen Tag in einer Schlange an der Supermarktkasse an. Vielleicht bin ich müde oder genervt. Plötzlich drängelt sich eine Person ganz vorn in die Schlange – sie habe bloß drei Teile und müsse eilig weiter. Mein Nervensystem fährt hoch; der Puls wird schneller, mein Körper spannt sich an und ich spüre Wut in mir aufsteigen.
Jetzt habe ich die Wahl (1): Absencing oder Presencing? Folgende Gedanken rasen durch meinen Kopf: So eine Ungerechtigkeit! Es sind immer dieselben, die sowas tun! Ist es der Sache dienlich, wenn ich mich aufrege? Bin ich dann wirklich schneller dran? Aber die Person muss doch in ihre Grenzen verwiesen werden! Ist es die Kraft und Mühe wert, sich über sowas aufzuregen? Was machen eigentlich die anderen? Wieso sagt niemand etwas? (…)
Wie entscheide ich mich nun? In diesem Fall habe ich theoretisch die freie Wahl. Ich kann mich dafür entscheiden, mich zu beruhigen oder ich kann meiner Wut Ausdruck verleihen und die Person mit ihrem Vordrängeln konfrontieren. Es hängt allein von meiner Entscheidung ab, die nicht nur von der aktuellen äußeren Situation (es drängelt jemand vor) beeinflusst wird, sondern auch von einer
ganzen Reihe an innen oft wenig bewussten Faktoren - meiner derzeitigen Grundstimmung, meinen Erfahrungen und meiner Einschätzung der vordrängelnden Person, meinem Wertesystem und meiner Haltung.
Wie würden Sie sich entscheiden und warum? Wie würden sie daraufhin Handeln – welche Methoden der Regulierung/ Beruhigung kennen Sie und wie würden Sie die andere Person mit ihrem Fehlverhalten konfrontieren?
Quellen:
Scharmer, C.-O. (2019). Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen. Carl-Auer Verlag.
Scharmer, C.-O. und Käufer, K. (2017). Von der Zukunft her führen – Theorie U in der Praxis: Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft (2. Auflage). Carl-Auer Verlag