„Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr“ oder: Wie können wir uns mit der entstehenden Zukunft in Verbindung setzen und von ihr lernen? Wie können wir „Presencing“ erleben.
Das Nadelöhr
Otto Scharmer beschreibt in seinem Buch das Phänomen, dass Menschen, Gruppen, Organisationen in Erneuerungsprozessen den Schritt über die Schwelle in den Raum, in dem wirklich Neues entstehen kann, oft nicht schaffen. Man steht kurz davor, etwas ist zum Greifen nahe und dann ist der Moment vorbei. Er schreibt: „Wird diese Schwelle nicht überschritten, ist all das Gerede über Wandel bedeutungs- und zusammenhanglos. Ich bezeichne sie manchmal als Nadelöhr. Im antiken Jerusalem gab es ein Tor, das `die Nadel´ genannt wurde und so eng war, dass der Kameltreiber seinem voll beladenen Kamel vor dem Tor die Last abnehmen musste, damit das Kamel passieren konnte. ... Entsprechend müssen wir, um die Schwelle auf dem Grund des U zu überschreiten, alles ablegen, was nicht unbedingt essentiell oder notwendig ist.“[1]
Im Folgenden beschreiben wir ein paar Dinge, die es uns erleichtern können, die Schwelle zu überschreiten. „Die Schwelle überschreiten heißt, dafür bereit sein loszulassen, d.h., alte Muster, Annahmen und auch das alte `Selbst´ abzulegen. Nur dann ist es möglich unser schlafendes Potenzial, unser entstehendes `Selbst´ zu aktivieren, ihm zum Wachstum zu verhelfen.“[2]
Achtsamkeit
Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die Achtsamkeit eine zentrale Bedeutung bekommen. Z.B. in der Kognitionswissenschaft (Entdeckung der Gehirnplastizität), im Gesundheitsbereich (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, MBSR), in der Bildung (emotionale Intelligenz, sozial-emotionales Lernen), in der Führung (Achtsamkeitspraktiken bei der Ausbildung von Führungskräften).[3]
„Achtsamkeit ist die Fähigkeit, auf die eigenen Erfahrungen zu achten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die eigene Aufmerksamkeit zu richten. Sie erfordert einen Wechsel der Wahrnehmung zu einer höheren Ebene – das man sich selbst vom Ganzen her wahrnimmt.
... Jede echte Kreativität, jede bedeutsame Innovation und jede tief greifende gesellschaftliche Erneuerung entspringt derselben Quelle, nämlich der Fähigkeit zu nachhaltiger Aufmerksamkeit – der Fähigkeit, uns selbst auf etwas einzulassen, dabei zu bleiben und dann schließlich – wenn wir Glück haben – den Funken der Inspiration einzufangen und eine Bewegung zu vollziehen, durch die wir das Neue – frei nach Martin Buber – ‚so verwirklichen, wie es verwirklicht werden will‘.“[4]
Soziale Felder[5]
Wie ein Ackerfeld ist auch eine Gemeinschaft/eine Organisation ein lebendiger Organismus mit einer sichtbare Oberfläche und einer unsichtbare Schicht im Verborgenen. Gerade diese unsichtbare Schicht ist aber verantwortlich für die Qualität der aufgehenden Saat.
Der Landwirt richtet seine Aufmerksamkeit/Achtsamkeit auf die Verbesserung der Bodenqualität. Auf dem sozialen Feld richten wir unsere Achtsamkeit auf die Qualität der Beziehungen, auf unsere Muster des Denkens, Kommunizierens und Organisierens.
„Und genauso wenig, wie der Landwirt eine Pflanze zum schnellen Wachstum `antreiben´ kann, kann man in einer Organisation oder einer Gruppe praktische Resultate durch Verordnung erzwingen. Stattdessen muss die Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Bodenqualität gerichtet werden.“[6]
Von der sozialen Landschaft der Gesellschaft hängt wesentlich ab, ob Transformations-prozesse (echter Wandel) in Gang kommen.
Es gilt, eine neue Form „kollektiver“ Achtsamkeit zu fördern, in der Menschen offen werden für neue Lösungen.
Das Gefäß
Otto Scharmer bezeichnet mit dem Begriff „Gefäß“ einen Raum (Schutzraum) in dem Kreativität möglich wird, jeder/jede sich äußern darf, ohne Bewertung, ohne Vorgaben, ohne Angst. Ein Raum hoher Aufmerksamkeit und intensiven Zuhörens. Ein Raum, der uns umschließt wie ein Gefäß, ein Raum, in den niemand eindringt und das, was entstehen will stört. Es darf einfach werden. (vgl. auch Tipps fürs Tun)
Das Nadelöhr
Nach Otto Scharmer müssen für die Passage des Nadelöhrs drei Bedingungen erfüllt sein:
„die Öffnung des Denkens, des Herzens und des Willens.
Öffnung des Denkens bedeutet, das Urteilen zu unterlassen, sodass das Denken des Universums (Gottes, Hl. Geistes, SG) durch deine Gedanken wirken kann. Öffnung des Herzens bedeutet, keinen Zynismus zuzulassen, sodass das Herz der Gemeinschaft durch deine Gefühle wirken kann. Öffnung des Willens bedeutet, keine Angst zu haben, sodass die Intention der entstehenden Zukunft durch dein Handeln wirksam werden kann.
Niemand hat diese feine Verschiebung auf dem Grund des U besser beschrieben als Martin Buber, der dafür die folgenden Worte in seinem Werk Ich und Du (1995, S. 57 f.) verwendet:
Er muss seinen kleinen Willen, den unfreien, von Dingen und Trieben regierten, seinem großen opfern, der vom Bestimmtsein weg und auf die Bestimmung zu geht. Da greift er nicht mehr ein, und er lässt doch auch nicht bloß geschehen. Er lauscht dem aus sich Werdenden, dem Weg des Wesens in der Welt; nicht um von ihm getragen zu werden: um es selber so zu verwirklichen, wie es von ihm, dessen es bedarf, verwirklicht werden will [...].“[7]
Anregungen für den Weg durch den untersten Punkt im U haben wir in unserer Material- und Geschichtensammlung zur Verfügung gestellt. Wenn Sie Methoden, Geschichten etc. haben, die unsere Sammlung bereichern wollen, schicken Sie uns Ihre Schätze gerne zu.
[1] Scharmer, C.O. (2019). Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen (S. 76). Heidelberg: Carl-Auer-System Verlag.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Scharmer, C.O. (2020). Theorie U. Von der Zukunft her führen. Öffnung des Denkens. Öffnung des Fühlens. Öffnung des Willens. Presencing als soziale Technik (S. 26). Heidelberg: Carl-Auer-System Verlag.
[4] Ebd. 27.
[5] Zum Folgenden vgl. Scharmer, C.O. (2019). Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen (S. 31-32). Heidelberg: Carl-Auer-System Verlag.
[6] Ebd. 31.
[7] Ebd. 81