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Grundlegende Konzepte:Die fünf Bewegungen im U

„Ich glaube, dass die eigentliche Aufgabe von Führung (leadership) in Unternehmen, Regierungen oder Zivilgesellschaften ein und dieselbe ist. Gruppen von Akteuren, die sich gegenseitig brauchen, um das System zu verändern, müssen ihre gemeinsame Handlungsfähigkeit herstellen, indem sie den Schritt vom ICH zum WIR – das heißt vom EGOsystem zum ÖKOsystem-Bewusstsein – vollziehen.“ (Scharmer, 2019, S. 91)

Die gemeinsame Reise durch das U mithilfe der fünf Bewegungen ist laut Scharmer „ein Weg, der sich in den letzten 20 Jahren aus zahllosen Experimenten und Anwendungen herausgebildet hat.“ (Scharmer, 2019, S.91). Theorie U bietet einen Rahmen und einen Prozess, mit deren Hilfe ganz unterschiedliche Vorhaben und Anliegen in unterschiedlichsten Kontexten in die Welt gebracht werden können. Weltweit wurden Projekte unterschiedlicher Reichweite und Größe im Wirtschafts- und Finanzsektor, im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in nationalen Behörden und in der internationalen Zusammenarbeit realisiert. Konkrete Projektbeispiele sind u.a. auf der Website der u school for transformation, in den Publikationen Scharmers und seiner Kolleg:innen zu finden, ebenso wie in diesem Artikel oder über eine entsprechende google-Suche.

Hinweise:

  • Der U-Prozess kann unterschiedlich detailliert betrachtet werden; je nach Anliegen wird das U daher auch in drei, sieben oder mehr Phasen unterteilt.
  • Im Rahmen unseres Projektes gemeinsam mit mUt ist uns eine praxisorientierte Einordnung von Methoden und Arbeitswerkzeugen wichtig; daher haben wir uns für die Darstellung von Theorie U in fünf Bewegungen entschieden.
  • In diesem Text stellen wir zunächst die grundlegenden 5 Phasen und ihre 24 Prinzipien vor. Ergänzend finden Sie in unserem Methodenbereich eine Vielzahl an Methoden und Übungen, mit deren Hilfe Sie Ihr Vorhaben dem U-Prozess folgend praktisch umsetzen können.
  • Wo sinnvoll, bieten wir mehrere alternative Bezeichnungen für Begriffe an – für viele Theorie U-Konzepte existieren im Deutschen verschiedene Bezeichnungen nebeneinander, da es keine einheitliche Übersetzung aus den englischen Originaltexten gibt.

 

1. SEHEN (auch „Gemeinsam beginnen“): die gemeinsame Intention entwickeln – ein erstes Gefäß bilden

Die erste Bewegung dient der Entwicklung einer gemeinsamen Intention als Grundlage und Leitstern für den U-Prozess. Menschen finden sich zu einem Kern-Team zusammen, verständigen sich auf gemeinsame Grundlagen und Vorgehensweisen, und praktizieren miteinander einen schöpferischen Dialog.

Prinzipien:

  • Höre hin, was Dein Lebensweg von Dir erwartet.
  • Begib Dich an die Ränder und praktiziere schöpferisches Zuhören und Dialog.
  • Kläre Deine tiefere Intention und Kernfragen.
  • Bilde eine diverse Kerngruppe um die gemeinsame Intention.
  • Bilde ein gemeinsames Gefäß, einen gemeinsamen Denk-Raum.

 

2. (Gemeinsam) ERSPÜREN: die Wirklichkeit von den Systemrändern her sehen – die horizontale Verbindung aufbauen

Die zweite Bewegung ist geprägt von gleichzeitiger Ausweitung und Vertiefung. Die Akteure begeben sich auf eine äußere Erkundungsreise zu den bislang wenig beleuchteten „Winkeln“ ihres Systems.  Eine innere Reise führt sie zeitgleich von der rein kognitiven „Vernunftebene“ hin zur Herzensebene. Denn Erspüren erfordert die Aktivierung des Herzens - Empathiefähigkeit, Verbundenheit, Verführbarkeit, Verletzlichkeit und vieles andere was wir sonst gern vergessen oder verstecken wird hier zum wichtigsten Instrument. Es gilt, die Wirklichkeit vom ganzen System her kennen- und wahrzunehmen. Dies bedeutet, dass wir uns ganz bewusst in unterschiedliche Perspektiven einFÜHLEN. Besonders spannend und sehr wichtig, da oft vernachlässigt, sind hierbei die Perspektiven von marginalisierten und unterdrückten Akteuren innerhalb eines Systems. Ebenso wichtig sind auch die Peripherien, die Systemränder und Akteure am Rand des Systems. Der Permakulturansatz wertschätzt die Randzonen mit einem eigenen Designprinzip (Designprinzip 11 nach Holmgren), da dort Vielfalt, Produktivität, Austausch und Innovation am größten ist und unerwartete, magische Dinge passieren können.

Prinzipien:

  • Bilde ein hochengagiertes Kernteam.
  • Unternimm Lernreisen zu den Orten mit dem höchsten Potenzial.
  • Beobachten, beobachten, beobachten: halte die Stimme des Urteilens zurück und suche den inneren Ort des Staunens.
  • Die Praxis schöpferischen Zuhörens und Dialogs: Öffnung des Denkens und des Herzens.
  • Gemeinsame Wahrnehmung: Nutze Social Presencing Theater und andere Methoden feldbasierten Wissens

 

3. PRESENCING: sich mit dem höchsten Zukunftspotenzial verbinden – die vertikale Verbindung aufbauen

Die Phase des Presencing ist ein ganz entscheidender Wendepunkt im U-Prozess - das sprichwörtliche Nadelöhr: es gilt Altes loszulassen, mit einer inneren Offenheit und Neugier im Nichtwissen zu sein, sich mit dem höchsten Zukunftspotenzial zu verbinden, und aus dieser Haltung heraus schließlich etwas Neues in diese Welt bringen.

Es ist hilfreich in dieser Phase der inneren Einkehr gemeinsam einen Ort der Stille und Inspiration aufzusuchen. Dies schafft den Raum und die Zeit, damit sich die Beteiligten mit ihrem schöpferischen Potenzial und den tieferen Quellen ihrer kollektiven Kreativität tatsächlich verbinden können. Manche Teams begeben sich dazu in eine mehrtägige Klausur; Spaziergänge und Ausflüge in die Natur können inspirieren und ein Gefühl von Verbundenheit mit der Welt unterstützen. Ein guter Rahmen ermöglicht ein Pendeln zwischen Ruhe und Bewegung, Fokus und Weite, nach innen und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit, sowie individueller und gemeinsamer Praxis.

Prinzipien:

  • Kreispraxis: das soziale Feld stärken; das Herz öffnen; Verbundenheit schaffen.*
  • Loslassen: innere Widerstände überwinden, die Schwelle überschreiten.*
  • Intentionale Stille: suche Praktiken, die Dich mit Deinen Quellen verbinden.
  • Folge Deinem Weg: tue, was Du liebst und was Du willst.
  • Kommen lassen: anwesend-werden-lassen der entstehenden Zukunft.

 

4. VERDICHTEN (auch „Co-Kreation“): Das Neue herauskristallisieren und durch praktisches Handeln Prototypen erstellen

In der Phase des Verdichtens nimmt das Zukunftspotenzial – der Impuls, die Idee, das Vorhaben – langsam Gestalt an. Scharmer nennt es „mithilfe von Prototypen Landebahnen für die Zukunft (…) bauen, auf denen wir diese Zukunft im Handeln erkunden können“ (Scharmer, 2019, S. 129). Inspiriert wurde die Phase maßgeblich durch die Methode des Design Thinking. In Verbundenheit miteinander, sowie mit dem bisherigen Prozess, schaffen die Beteiligten gemeinsam einen ersten Prototyp des Vorhabens, welcher anschließend weiterentwickelt und verfeinert wird. Die Repräsentation des Prototyps ist dabei vollkommen offen – es kann eine Skizze, ein Modell, ein Bild, eine Theaterszene, Musik, oder etwas ganz Anderes sein. Dieser Prototyp ist als „work in progress“ oder Version 0.8 zu verstehen und keine perfekte Version 1.0. Der Fokus liegt darauf, ins Handeln und Umsetzen zukommen und eine Grundlage für die Weiterarbeit zu schaffen.

Prinzipien:

  • Die Kraft der Intention: verdichte Deine Vision und Intention.
  • Bilde Kerngruppen: fünf Leute können die Welt verändern.
  • Schaffe Orte und Plattformen.
  • Baue einen Prototyp 0.8.
  • Bleibe immer im Dialog mit dem Universum
  • Verbinde Kopf, Herz und Hand; es braucht alle drei gleichermaßen. *

 

5. GEMEINSAM GESTALTEN: das Neue institutionalisieren und Ökosysteme der Innovation aufbauen.

Diese letzte Phase des U-Prozess. Gemeinsam wird das Vorhaben nun in der (Außen)Welt etabliert. Dabei geht es nicht darum, ein starres Ergebnis oder einen durchdefinierten Prozess zu installieren. Vielmehr soll das Vorhaben lebendig und gestaltbar bleiben, sich weiterhin verändern und weiterentwickeln. Nur so kann dieses Vorhaben in einer sich rasant verändernden Welt erfolgreich bestehen. Und nur so kann sichergestellt werden, dass dieses Vorhaben nachhaltig in Kontakt bleibt mit den Intentionen, Prinzipien und Träumen aus denen es entstanden ist. An dieser Stelle geht es um die Verstetigung der Werte, Prozesse und Methoden welche das Vorhaben im Verlauf des U-Prozesses ermöglicht haben. Es geht darum ein unterstützendes Soziales Feld zu schaffen, welches das Vorhaben weiterentwickelt und neue Innovationen ermöglicht.

Prinzipien:

  • Entwickle Techniken, die dem System erlauben, sich selbst zu erspüren und zu sehen.
  • Entwickle wirksame Mechanismen und Übungsfelder für schöpferisches Zusammenarbeiten und neue Kooperationen. *
  • Gründe Labore und Plattformen zur Kultivierung des sozialen Bodens. *

*die mit einem Stern gekennzeichneten Prinzipien wurden vom Projektteam leicht umformuliert; alle übrigen Prinzipien wurden im Original aus Scharmer, 2019 übernommen.

 

Quellen:

Scharmer, C. O. und Käufer, K. (2017). Von der Zukunft her führen - Theorie U in der Praxis: Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft (2. Auflage). Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

Scharmer, C. O. (2019). Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.

Holmgren, D. (2016). Permakultur: Gestaltungsprinzipien für zukunftsfähige Lebensweisen. Klein Jasedow: Drachen Verlag.