In diesen Tagen dürfen wir sehen und spüren, wie die Natur aufs Neue in ihrem ewigen Kreislauf „aufbricht“: die Knospen, die sich im Winter gebildet haben, brechen auf und tragen frisches Blattgrün, das Zwitschern der Vögel am Morgen, die sich in ihrem Pfeifkonzert scheinbar gegenseitig anstecken und überbieten, rufen und Antwort erhalten, die Tierwelt, die ihre Nester bereitet für den Nachwuchs, wie ich es etwa an den zahlreichen Störche auf den Strommasten des Laubenheimer Rieds miterleben kann…
„Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und weben Tag und Nacht, sie schaffen an allen Enden. O frischer Duft, o neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muss sich alles, alles wenden. Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag, das Blühen will nicht enden. Es blüht das fernste, tiefste Tal: Nun, armes Herz, vergiß der Qual! Nun muß sich alles, alles wenden“, so beschreibt es Ludwig Uhland, deutscher Dichter, Jurist und Politiker, Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, der in der Zeit von 1787-1862 lebte.
Die Kar- und Ostertage zeigen uns am Leben Jesu auf, wie sich das Leben in kürzester mehrfach wenden kann: vom Jubel der Menge bei Jesu Einzug in Jerusalem als langersehnter und gefeierter Messias über seine Erfahrungen der Einsamkeit und Todesangst vor seiner Festnahme über die unerträglichen Qualen und Schmerzen der Folter und Kreuzigung, durch den Tod hindurch in die Wende aus dem „fernsten, tiefen Tal“: den Neubeginn des Lebens in Fülle, der sich „Auf-Erstehung“ nennt. Eine Erfahrung, die auch wir Menschen in Situationen unseres Lebens leider allzu gut kennen und durchschreiten müssen: die unerwartete Diagnose, das plötzliche Ereignis, die das bisherige Leben „auf den Kopf“ stellen und nichts mehr erscheinen lassen, wie es gerade noch war; die fremde Hilfe, auf die wir mit einem Mal angewiesen sind, die Ohnmacht, der wir uns ausgeliefert sehen, die Sorge, ob die Kraft reichen wird, ob es einen Ausweg/eine Perspektive gibt, mit der ich (weiter-)leben kann…
Hoffnung, dass sich „das Blatt wendet“, dass der eigene Weg „in die richtige Richtung führt“, sich freuen können an den kleinen „Fort-Schritten“, an die ich mich klammere. „Hoffnung ist gefährlich“, sagte mir die Mutter eines Jugendlichen auf unserer Kinderintensivstation, nachdem sie sich von ihrem Sohn verabschiedet hatten, medizinischerseits aber scheinbare Lebenszeichen eine andere Spur für möglich hielten, die sich leider nicht bewahrheitet haben. So erlebten sie den Tod als Erlösung aus einer unerträglichen Lebensqualität, die sich niemand in der Familie (einschließlich des Betroffenen selbst) hätte vorstellen können und wollen. So unendlich schmerzlich und tieftraurig diese Erfahrung geblieben ist, hat sie zu einer Wende, einen Durchgang in ein anderes Leben geführt. So sagt es uns unsere christliche Osterbotschaft. Lassen wir uns in diesen Tagen von Gott neu mit Osteraugen beschenken, die das Leben in diesem Licht sehen können: aus der Nacht in den Tag, aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Tod ins Leben, wie es der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle einmal beschrieben hat: „Ich wünsche uns Osteraugen, die im Tod bis zum Leben, in der Schuld bis zur Vergebung, in der Trennung bis zur Einheit, in den Wunden bis zur Herrlichkeit, im Menschen bis zu Gott, in Gott bis zum Menschen, im Ich bis zum Du zu sehen vermögen.“
(Norbert Nichell)