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Herr, lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht…

8. April 2023 Weihbischof Udo Markus Bentz, Mainz

Predigt zur Feier der Osternacht im Mainzer Dom, Samstag, 8. April 2023, 21.30 Uhr

Zu manchen Zeiten scheint es einfacher zu sein, zum Karfreitag zu predigen als zu Ostern. Mit den vielen Facetten des Leids der Passion Jesu  können wir uns in den vielen Facetten menschlichen Leidens identifizieren. Karfreitag ist immer, ob wir wollen oder nicht. Er verschwindet auch nicht mit dieser Osternacht. Ostererfahrungen hingegen scheinen flüchtiger, weniger greifbar zu sein.

Am Donnerstag erreichte mich ein kurzer Ostergruß einer Gemeindereferentin aus unserem Bistum. Gerne möchte ich diesen Gedanken mit Ihnen teilen. Sie schreibt in Anlehnung an eine Redewendung: „Manchmal sehen wir nur Bäume, Probleme dicht an dicht. - Herr, lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht.“ (nach E. Matani)

Das Leid der Passion steht mit Wucht in unserem Leben: wie kratzige Baumstämme, Probleme dicht an dicht. Wo ist da Platz für Ostern? Ja, ich bete: „Lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht!“ Ich wünsche Ihnen und ich wünsche mir selbst, dass dieser Blick auf das „dazwischen“, auf die Zwischenräume österlicher Hoffnung zwischen den Bäumen der Zumutungen des Lebens gelingt! Paulus hat uns das im Römerbrief zugesichert: „Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir … in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln.“ (Röm 6,4)

Bäume und dazwischen Licht
Bäume und dazwischen Licht

Die Wirklichkeit des neuen Lebens - Ostern - ist das großartige Geschenk unserer Taufe: Auch wenn uns die harten Realitäten des Karfreitags anscheinend unausweichlich im Griff haben - als Getaufte wirkt auch die neue Wirklichkeit des österlichen Lebens schon in uns! „Manchmal sehen wir nur Bäume. Probleme dicht an dicht. Herr, lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht.“

Österliche Erfahrungen sind wie ein plötzlicher, überraschender Lichtstrahl oder manchmal auch wie ein diffuses Licht zwischen dem Schatten der Bäume. Diese Sichtweise auf die Wirklichkeit ist nicht selbstverständlich. Das war es für die Jünger nicht. Das war es für die Frauen am Grab nicht. Das ist es für mich und für Sie nicht. Schauen wir genauer hin: Maria von Magdala und der anderen Maria sitzt der Schock und die Trauer fest im Nacken. Vor ihnen die harte Realität des Grabes. Es ist der bohrende Schmerz des Verlustes und der Ohnmacht. Dann aber blitzt im wahrsten Sinne des Wortes etwas ganz anderes auf. Das Evangelium sagt über den Engel, sein Aussehen sei wie ein „Blitz“ (vgl. Mt 28,3) gewesen: Zwischen Golgotha und dem Grab - dazwischen! - blitzt eine neue Wirklichkeit auf: „Fürchtet euch nicht, … er ist auferstanden!“ (Vgl. Mt 28, 5f) Das Grab ist nicht mehr die ganze und erst recht nicht die einzige Wirklichkeit! Deshalb sind die Frauen „voll Furcht und großer Freude“ (vgl. Mt 28,8). In dieser Ambivalenz erkenne ich meine eigene Situation: „Probleme dicht an dicht. - Herr, lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht!“ Wenn wir an die Auferstehung glauben, sind wir gerufen, inmitten der Not dennoch und trotz allem „in der Wirklichkeit des neuen Lebens zu wandeln“, wie Paulus es uns ins Stammbuch schreibt. Man müsste uns daran erkennen, wie wenig wir Unheilspropheten sondern wie unverbesserlich wir Hoffende auf gute Wege für die Zukunft sind! Das ist und bleibt unsere Berufung als Christen, als Kirche inmitten unsrer von Leid geplagten Gegenwart.

Wie gelingt dies?

Alle Ostererzählungen haben etwas mit Bewegung zu tun: Maria von Magdala wird durch den Engel vom Grab weggeschickt. Sie muss in Bewegung kommen, damit sie dieses „Neue“ erfahren kann. Auf dem Weg begegnet sie dann ja auch dem Auferstandenen. Sie will ihn aber an den Füßen festhalten. Wieder muss sie loslassen und weitergehen. Ähnlich die Emmausjünger: Sie müssen sich auf den Weg machen - weg vom Ort des Grauens. Unterwegs begegnen sie dem Auferstandenen. Andere Jünger gehen weg aus Jerusalem. Sie machen ihre Erfahrungen unterwegs in Galiläa. Petrus springt am See von Tiberias in den See und schwimmt dem Auferstandenen entgegen. Alle müssen sie in Bewegung kommen. Alle müssen sie ihre innere Lähmung, die gefühlte Starre und Schwere aufbrechen und überwinden.

Schwestern und Brüder, das will ich mir zu Herzen nehmen. Wenn wir die Wirklichkeit des uns verheißenen neuen Lebens tatsächlich erfahren wollen, dürfen wir uns nicht der lähmenden Lethargie hingeben. Krallen wir uns nicht fest an dem, was uns bitter macht. Helfen wir einander, aus dieser Lethargie aufzubrechen. Hängen wir nicht starr am Gestern. Einander helfen aufzubrechen - das gehört zu Ostern dazu. Dazu braucht es oft nicht viel: ehrliche Zuwendung, schlichte Signale, wie wir füreinander da sind. Aufbrechen! Manchmal ganz konkret: laufen, sich bewegen. Dann aber auch im übertragenen Sinn: das „Gedankenkarussell“, das mich runter zieht, durchbrechen und ganz bewusst die Gedanken auf die „Zwischenräume zwischen den Bäumen“ richten.  Aufbrechen und Begegnen: Das ist die Dynamik der Ostererzählungen.

Mit einer österlichen Kirche ist es ähnlich: Zwar dürfen wir die alte Wirklichkeit in ihrer ganzen Ambivalenz nicht „wegschieben“. Dennoch werden wir nicht die Wirklichkeit des neuen Lebens erfahren, wenn wir krampfhaft festhalten an dem, was abgestorben und lebloses Relikt ist - wenn wir nur darauf starren, was war. Eine österliche Kirche hat den Mut, sich in Bewegung zu setzen und in aller Ungewissheit und Offenheit darauf zu vertrauen, dass schon längst eine neue Wirklichkeit begonnen hat! Eine österliche Kirche traut dieser neuen Wirklichkeit, ohne schon wieder alles in der Hand haben zu wollen oder schon alle Folgen abschätzen zu können. Es war auch für die ersten Jünger ein Risiko, sich der neuen Wirklichkeit anzuvertrauen, ohne zu wissen, wie es werden wird. Erst aufbrechen, dann erleben, was geschieht - das ist die Dynamik der Ostererzählungen. Wie hieß es? „Die vielen Bäume, Probleme dicht an dicht. Herr, lass uns sehen die Zwischenräume! Und das Licht!“

Leid ist immer persönlich, einzig und unverwechselbar. Aber auch die Wirklichkeit des neuen Lebens ist einzig und unverwechselbar. Der Auferstandene ist frei. Er ist souverän. Er zeigt sich wem, wann, wo und wie er will. Das verwirrt die Jünger: einmal ist es der Gärtner; dann sind es Engel; dann ist es ein Fremder; dann meinen die Jünger, er sei ein Gespenst. Das geht auch uns selbst so: So verschieden unsere Lebenskontexte sind, so verschieden und persönlich sind unsere Ostererfahrungen. Lassen wir uns durch die Vielfalt, manchmal auch die Gegensätzlichkeit unserer österlichen Glaubenserfahrungen nicht verwirren! Anscheinend gehört das zu Ostern dazu. Als Kirche müssen wir das  lernen auszuhalten: vielfältig, individuell unterschiedlich - ja auch gegensätzlich - können unsere Glaubenserfahrungen sein. Die eine Erfahrung ist aber nicht mehr oder weniger gewichtig als die andere. Jesus ist auch heute souverän und frei, wem und wie er sich zeigen will. Begegnen wir den verschiedenen persönlichen Glaubenserfahrungen deshalb nicht mit Skepsis. Sprechen wir uns nicht gegenseitig die Echtheit unsrer Erfahrung ab! Damals wie heute lässt sich die Wirklichkeit des neuen Lebens nicht in ein Schema pressen. Es wäre zwar einfacher. Es wäre aber kein lebendiges Leben, erst recht nicht das neue Leben. Das vergessen wir oft in unseren kirchlichen Diskussionen.

Zerfällt damit diese Wirklichkeit des neuen Lebens in die bloße Subjektivität meiner eigenen Erfahrung? Ganz und gar nicht! Da gibt es noch eine andere Dynamik: Die Frauen gehen zurück zu den Jüngern und erzählen, was sie erfahren haben. Die Emmausjünger gehen zurück nach Jerusalem zu den anderen. Thomas muss in der Gemeinschaft der anderen Jünger sein, um Jesus zu begegnen.

Zwar zeigt sich der Auferstandene nie in gleicher Weise zu gleicher Zeit allen - das bleibt die Erfahrung der weltweiten Kirche durch all die Jahrhunderte. Aber erst indem die je eigenen Erfahrungen zurück- und eingebracht werden in die Gemeinschaft, erkennen die Jünger: Es ist der eine und selbe Jesus, mit dem wir nachösterlich so verschiedene Erfahrungen machen.

Auch das ist die Wirklichkeit des neuen Lebens: Wir setzen uns selbst nicht absolut, nicht als einzelne gegenüber den anderen, nicht als Gruppe gegenüber der Gemeinde, auch nicht als Kirche vor Ort gegenüber einer Weltkirche. Aber wir nehmen die Verschiedenheit der Erfahrungen ganz ernst und lernen damit umzugehen. Keiner wurde für sich selbst getauft. Dieses „zurückkehren“ der Jünger an Ostern zur Gemeinschaft der anderen bleibt auch für uns unverzichtbar. So geht Kirche! Und ich bin sehr zuversichtlich und das erhoffe und wünsche ich uns: Dass wir so die Gemeinschaft der Kirche nicht nur als Ballast sondern wieder mehr und mehr als bereichernde Kraftquelle für unseren eigenen Glauben erleben können. Das setzt aber voraus, dass wir uns eben auch als Kirche in diese Dynamik des neuen Lebens wagen! Auch in dieser Hinsicht gilt: Ja, wir sehen die Bäume, die Probleme dicht an dicht! Herr, lass uns die Zwischenräume sehen und das Licht! Amen.