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Libanon-Reise von Sonntag, 16.10.2022 bis Samstag 22.10.2022

18. Oktober 2022 Udo Bentz

Mit einigen Eindrücken und Reflexionen meiner Beirut-Reise möchte ich meinen neuen Blog starten. Ich freue mich über alle, die Interesse zeigen an den Themen und Aktivitäten in meinem Aufgabenfeld der Weltkirche, aber auch in der Verantwortung als Generalvikar für das Bistum Mainz: Informationen, Bilder, Impressionen, Nachdenkliches will ich teilen.

Zwei Jahre nach der Explosion im Hafen von Beirut besuche ich derzeit für knapp eine Woche wiederum Beirut, die verwundete Stadt. Die traumatisierte Gesellschaft. Symbol und Mahnmal der Katastrophe von Beirut sind die Ruinen der Silos im Hafen. Am zweiten Jahrestag der Explosion sind sie in sich zusammengestürzt. Es stehen nur noch Stümpfe. Ein Zeichen für das, was seither mit der libanesischen Gesellschaft geschehen ist? 

Zerstörte Silos am Hafen
Zerstörte Silos am Hafen

In der vergangenen Woche hätte das Parlament endlich einen Präsidenten wählen sollen. Der zweite Anlauf. Wiederum Boykott der Abgeordneten. Weiterhin Stillstand. Eine politische Elite, die tief verstrickt in ihre eigenen Interessen, sich selbst paralysiert. Ein Land ohne handlungsfähige Regierung gerade in einer Krisensituation, deren Ausmaß hier so bisher niemand erlebt hat: Seit Herbst 2019 ist das Land bodenlos in einer Wirtschaftskrise gestürzt. Die Gelder auf den Konten der Banken sind eingefroren. Verarmung greift rasant um sich.

Meine Gesprächspartner haben mir heute an Beispielen das Ausmaß deutlich gemacht: Hat ein Lehrer vor drei oder vier Jahren ein Gehalt in libanesischen Pfund in einem Gegenwert von ca. 1000 US-Dollar erhalten, so ist sein Gehalt heute nur noch ca. 40 US-Dollar wert. Viele Lehrer wandern ab ins Ausland. Nur noch ca 40% der schulpflichtigen Kinder besuchen derzeit eine Schule. Warum? Viele müssen arbeiten, um ein Zubrot für die Familie zu verdienen. Kinderarbeit in den Fabriken und der Landwirtschaft, Kleinsthandel in den Städten. Die verheerenden Folgen dessen werden sich noch in Generationen zeigen. Ein weiteres Beispiel: Heute morgen besuchten wir ein medical-health Center, das von der armenischen Kirche getragen und unter anderen von Misereor, Malteser International und Caritas International seit einigen Jahren mit verschiedenen Projekten unterstützt wird.

Dort hören wir, dass dieses Center mit seinen Programmen in den vergangenen Jahren vor allem von syrischen Flüchtlingen aufgesucht wurde. Heute werden hier genauso viele Libanesen wie Syrer behandelt. Nur noch wenige der libanesischen Bevölkerung können sich eine ärztliche Behandlung leisten. 2019 wurden pro Jahr ca 50.000 Patienten behandelt. Heute sind es 150.000, die hier herkommen.

Rasant steigen die Fälle, die hier in der psychosozialen Beratung behandelt werden. Symptome einer kollabierenden Gesellschaft. „Bürger, die früher unser Center mit Spenden unterstützt haben, kommen heute zu uns als Patienten, weil sie auf unseren Dienst angewiesen sind und sich nun selbst keine medizinische Behandlung mehr leisten können. Wir sehen kein Licht am Ende des Tunnels“, sagt mir Michel Constantin von der Pontifical Mission Society. „Umso wichtiger, dass inmitten dieser Dunkelheit für die Menschen eine solche Lichtsäule steht, wie das Health Care Center!“, so meine Antwort. Die Motivation der Ärzte und Sozialarbeiterinnen und Pflegekräfte beeindruckt mich. Kirche ist hier mitten im Leben der Menschen, mitten in der Not, inmitten der heruntergekommenen Appartments der Nachbarschaft. Ohne großes Aufheben zu machen. „Wir wollen den Menschen zeigen, dass ihre Würde unantastbar ist,“ so jemand aus dem Team. Wie viel Energie. Wie viel Frust aber auch über die politische Elite. Neue Herausforderungen rollen auf die Helfer zu. In einigen syrischen Flüchtlingslagern breitet sich die Cholera aus. Man hat Angst, dass sie übergreift auf die städtische Bevölkerung. Was mir nicht aus dem Kopf geht: Schlimmer geht anscheinend wirklich immer…

Wir hören viel von den sozialen Spannungen, zwischen libanesischer Bevölkerung und syrischen Flüchtlingen. Mit der Not wächst der soziale Neid. Keiner weiß, wie sich diese Spannung entladen wird. Manche Beobachter meinen, in weiten Teilen der Bevölkerung gäbe es derzeit wenig Energie und Kraft für Veränderung, über allem läge eine Dunstglocke der Depression. Jeder ist zu sehr mit seinem eigenen alltäglichen Überleben beschäftigt.

Morgen werde ich mich Studierenden der Notre-Dame-Universität zusammentreffen. Ich bin gespannt. 

Jesusfigur in einer Vitrine

Bilder von der Libanonreise im Oktober 2022

Datum:
18. Okt. 2022
4 Bilder