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Libanon-Reise von Sonntag, 16.10.2022 bis Samstag 22.10.2022 Tag 2

20. Oktober 2022 Udo Bentz

Was braucht es für ein gutes Leben?

Ich muss zugeben, dass ich etwas aufgeregt bin: Eine Stunde Diskussion steht auf dem Programm, und zwar mit Studierenden der Notre-Dame-University im Rahmen des theologischen Curriculums. Alle Studierende, gleich welchen Studienfaches, absolvieren einen solchen Kurs. Das gehört zum Profil der Universität. So sitzen da also junge Menschen, die Technik, Wirtschaft oder auch Design studieren. Das christliche Menschenbild war in den vergangenen Vorlesungen Thema, verknüpft mit sozialethischen Fragen. Wir sind mittendrin: Glaube in dem, was die Studierenden bewegt. Natürlich bin ich mit meiner Nervosität nicht allein. Auch die jungen Leute sind aufgeregt. Wir diskutieren über Freiheit. Wie gehe ich verantwortlich damit um? Was heißt das? Schnell wird es konkret: die Korruption der politischen Elite im Land - immer wieder taucht dieses Thema auf. „Ich erlebe, in wie vielen Bereichen die Tradition meines Glaubens meine Freiheit fesselt, als junger Mensch modern zu leben“, so eine Studentin. Wir diskutieren, wie sich das Evangelium inkulturieren kann: die gleiche Botschaft in verschiedenen Kulturen, die gleiche Botschaft in verschiedenen geschichtlichen Zeiten. Wie geht das? Für die junge Frau ist aber klar, nach ihrem Studium will sie in Ausland. Dort erhofft sie sich andere Möglichkeiten. Hier und da komme ich ins Stolpern, weil mir auf die Schnelle nicht immer das notwendige englische Vokabular über die Lippen geht. Den Studierenden geht es aber ähnlich. Wir lachen, als wir um Worte ringen. Eine engagierte und doch zugleich entspannte Begegnung. Und: so sehr unterscheiden sich die Fragen der jungen Leute hier nicht von den Begegnungen mit jungen Leuten zuhause in Mainz.

Seminarraum
Seminarraum

Ernst wird es, als ich danach frage, welche Hoffnung sie für sich in diesem Land sehen. Eine junge Frau sagt: Sie bleibt. Krisen kommen, Krisen werden auch wieder gehen. Das ist ihre Heimat. Eine andere Studentin schüttelt heftig den Kopf. Sobald sie ihr Examen hat, wird sie gehen. Die Studenten diskutieren nun untereinander. Ich höre zu und spüre: Diese Frage trifft wohl den Nerv dieser Generation. Ein anderer Student berichtet, er sei aus den USA wieder in den Libanon zurückgekehrt. Ihm fehlte dort so viel, was zu seinem Leben aber gehöre. Er hoffe, dass er es hier gut schaffen wird. Professor Fahed, der mich in seine Vorlesung eingeladen hatte, sagt mir im Anschluss: „Sie sehen, was hier geschieht. Wir wissen, wie ambivalent das ist, was wir hier tun. Wir ermöglichen jungen Menschen eine hervorragende Qualifikation. Wir sind überzeugt, dass dies der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes ist. Zugleich ist es aber auch ein qualifiziertes Ticket dafür, seinen Weg im Ausland gehen zu können.“ Ein Dilemma. Und dennoch alternativlos. Ich treffe auf Stipendiaten, die von Missio im letzten Studienjahr unterstützt werden. Sie sind sehr dankbar für diese Förderung. Im kommenden Jahr machen sie ihr Examen. Ohne die Unterstützung von Missio hätten sie ihr Studium abbrechen müssen. Ihre Familien können durch die Wirtschaftskrise für sie kein Studium mehr finanzieren, so die Studierenden. Es ist ein Sonderprojekt von Missio aufgrund der akuten Situation. Bildung bleibt ein entscheidender Schlüssel, dem Land Zukunft zu geben.

Stipendiaten Missio - Professor Fahed
Robert von JRS (links)

„You survived!“ lacht Professor Fahed, als wir zurück auf den Campus gehen. Ja, so fühle ich mich momentan auch ein wenig. Ich spürte in mir selbst diese Ambivalenz. Ich kann verstehen die jungen Leute verstehen, dass sie ihr Lebensglück dort suchen wollen, wo sie sich die besseren Chancen erhoffen. Und zugleich frage ich mich: Ob sie wirklich schon ermessen können, was auch der Preis ist, alles zurück zu lassen? „Nach eineinhalb Jahren in Europa und USA bin ich wieder hier“, erzählt mir Robert, ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Jesuit refugees service“. Er hatte Medienwissenschaften studiert und einen Job in Beirut. Dann kam die Krise. Die Möglichkeiten, einen guten Job im Mediensektor zu finden, waren verlockend. Nach drei Monaten in Europa ging er in die USA. Er hatte einen guten Job. Aber es war nicht seine Art zu leben, so erzählt er mir. Ihm fehlte die Gelassenheit, das Zeitempfinden, die Art des Zusammenseins, wie er es aus seiner Heimat und Kultur gewohnt war. Er spürte, wie sehr ihm die Alltagskultur der Menschen im Libanon fehlte. „Auch das gehört zu einem erfüllten Leben, nicht nur ein guter Job“, so erklärt er mir, warum er zurückkehrte und sich heute in einer NGO für Flüchtlinge im Libanon und durch die Wirtschaftskrise mehr und mehr auch für seine eigenen Landsleute in Bildungsprojekten engagiere. „Bei allem, was hier so schwierig ist, es ist ein tolles Land!“ lacht er und zeigt mir, wie man die flachen Brotfladen falten muss, damit man ohne Löffel außer Humus auch das Olivenöl aufs Brot bekommt. Das muss ich noch üben.

Gemeinsames Mittagessen mit Misereor und JRS