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Wie wird der Winter?

3. November 2022 Udo Bentz

Besuch bei der Straßenambulanz für Wohnungslose in Offenbach

Auf dem Weg nach Offenbach. Zugegeben, ich bin etwas angespannt. Heute besuche die Straßenambulanz für Wohnungslose in Offenbach. Begegnungen mit wohnungslosen Klienten warten auf mich. Ich habe damit nicht viel Erfahrung. Klar, so manchen Wohnungslosen in der Innenstadt von Mainz kenne ich, vor allem diejenigen auf meinem täglichen Weg zwischen Wohnung und Büro. Mit manchen ist es ganz unkompliziert, auch herzlich. Mit anderen fällt es mir schwerer, einen Anknüpfungspunkt für ein Gespräch zu finden. Begegnungen mit kranken Wohnungslosen in einer Behandlungsambulanz aber hatte bisher noch nicht. Was erwartet mich da? Woran leiden sie? Wer sind sie? Wir werden auch Schlafplätze am Rand der Stadt aufsuchen. Wie leben Menschen ohne Wohnung? Wie sieht ihr alltäglicher Kampf um den Alltag aus? Wie geraten Menschen in die Situation der Wohnungslosigkeit? Welche Hilfen braucht es?  "Die Straßenambulanz ist ein Herzensprojekt von uns", wie mir Frau Helios, die Projektleiterin gesteht. Als ich am Nachmittag wieder zurückfahre, weiß ich weshalb.

Vor rund vier Jahren wurde dieses Projekt vom Caritasverband Offenbach ins Lebens gerufen: ein Ambulanzbus, Ambulanzräumlichkeiten, Pflegepersonal und eine enge Kooperation mit der Praxis des Malteser-Hilfsdienstes e.V. Das Projekt finanziert sich aus Großspenden zweier Stiftungen und der Kirchensteuer. Rund 180.000 Euro braucht es jährlich. Staatliche bzw. kommunale Gelder? Bisher Fehlanzeige. Es gibt sie, diese Lücken im sozialen Sicherungsnetz. Und es ist schwer Menschen aufzufangen, die von diesem Sicherungsnetz nicht gehalten werden. Wie oft erlebe ich das! Kirche, Caritas geht "in die Lücken" - das ist ihr Auftrag! Wer weiß schon, dass diese medizininsche, pflegerische Hilfe nur möglich ist durch private Initiative und Kirchensteuermittel? Unsere neu gegründete Hildegardi-Stiftung will genau in diese Lücke gehen und Projekte für Menschen ohne Krankenversicherung unterstützen.

ein Schlaflager am Stadtrand
ein Schlaflager am Stadtrand

Briefing: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führen mich in das Projekt ein: Sie erzählen von den Startschwierigkeiten, das Projekt überhaupt auf die Beine zu stellen. Klar höre ich auch, was es noch bräuchte, um besser helfen zu können. Sie erzählen von schwierigen Schicksalen ihrer Klienten. Menschen aus 33 Nationen kommen in die Straßenambulanz und suchen Hilfe. Das allein sagt schon viel. Ich will wissen, wie Menschen in solche Situationen geraten, dass sie wohnungslos und ohne Krankenversicherung sind. Häufig sind Miet- und Energieschulden die Ursache, weshalb Menschen ihre Wohnung verlieren: durch Verlust der Arbeit, durch Krankheit, aber auch durch unangemessene Mietsteigerungen. Persönliche Beziehungsprobleme, Trennung vom Partner oder dauerhaufte Konflikte mit der Nachbarschaft sind weitere Gründe. Und dann beginnt ein Teufelskreis: zuerst kommt man bei Bekannten unter. "Sofahopping" sagen sie dazu. Das geht aber nur eine gewisse Zeit. Im Zusammenhang mit Gewalt finden manche Unterkunft z.B. in Frauenhäusern oder anderen Notunterbringungen. Oft sind schwierige Beziehungsprobleme Auslöser, die Wohnung durch Trennung vom Partner zu verlieren.  Mit der Wohnung verlieren viele ihr bisheriges soziales Umfeld, diejenigen Beziehungen, die einem bisher getragen haben. Sucht ist eine lauernde Gefahr und bei so vielen das zerstörerische Übel. Der Schritt von der Wohnungslosigkeit zur Obdachlosigkeit ist nicht groß: Man hat kein festes Dach über dem Kopf. Die persönlichen Probleme, die es schwer machen, den Auflagen der Behörden nachzukommen, häufen sich. Es gibt kein Geld mehr.  So verliert man auch die Krankenversicherung. Krank wird man aber trotzdem, oder erst recht in solchen prekären Situationen. Ein Klient steht im Hof vor der Ambulanz. Als ich mit der Krankenschwester nach draußen gehe und er sie sieht, beginnt er über das ganze Gesicht zu strahlen: "Mama!" - ruft er. "Sie ist meine Mama." Er kommt fast täglich: Er braucht Medikamente, Wunden sind zu versorgen. Und die Körperpflege gehört auch dazu - sie ist ein Grundbedürfnis. Menschenwürde fängt bei der Körperpflege an. "Gesundheit ist ein Menschenrecht und die Würde ist unverhandelbar" - auch für Menschen in solchen Lebenssituationen, so die Krankenschschwester. Diejenigen, die den Weg hierher finden, spüren "hautnah": Hier werde ich geachtet. Natürlich gibt es mit manchen auch Stress. Bei einem Klienten braucht es klare Ansagen. Doch durch die fast täglichen Begegungen wachsen Beziehungen und Vertrauen. Ein Mann aus Bulgarien kommt erst seit ein paar Tagen hierher. Es ergibt sich, dass ich ihm am Ende "seiner Behandlung" ein Kreuzzeichen auf die Stirn zeichne. Tränen stehen ihm jetzt in den Augen. Ich war krank und ihr habt mich besucht. Ich war nackt und ihr habt mich bekleidet. So heißt es in der Vision vom Weltgericht bei Matthäus. Ich war obdachlos und ihr habt mich aufgenommen... Evangelium konkret. 

Im Behandlungsraum der Ambulanz

Wir fahren raus an den Stadtrand. Man kennt die Schlafplätze von einigen Klienten. Ein paar Quadratmeter Rückzugsort. Na ja, was heißt Rückzug? Eine Matratze auf dem nassen Boden, ein paar Schirme aufgespannt. Schlafsack. Ein paar Habseligkeiten, verstreuter Müll. Nicht weit entfernt von einem Spazierweg, auf dem an diesem Tag etliche mit dem Fahrrad oder mit ihren Hunden unterwegs sind. Vom Spazierweg ist der Schlafplatz geschützt durch ein paar Hecken. Schräg gegenüber Baustellen: teure Appartments werden hier errichtet. Größer könnte der Gegensatz nicht sein. Ob er hier wird bleiben können, wenn die Wohnungen fertig sind? Sicher nicht.  "Wie wird der Winter für ihn werden?" So schießt es mir durch den Kopf. Ich frage. Es gibt bereits Planungen und Gespräche - auch mit der Stadt. Letzten Winter konnten von Privatspenden und Mitteln der Kommunie Zimmer angemietet werden. Das soll auch dieses Jahr wieder möglich sein. Eine ökumenische Initiative, an der sich viele Offenbacher Pfarreien beteiligen, sorgt für warme Mahlzeiten.

Wie wird für manchen der Winter werden, wenn er die Energiekosten nicht zahlen kann und in Rückstand gerät? "Wir brauchen Präventionsmechanismen, die vor der Gefahr schützen, die Wohnung zu verlieren," erklärt mir ein Mitarbeiter. Neben der akuten Hilfe für Wohnungslose braucht es Unterstützung, um zu verhindern, dass der worst case des Wohnungsverlustes eintritt. Es braucht mehr Beratungsangebote in Miet- und sozialrechtlichen Anliegen. Was kann man tun? Hilfe anbieten mit einem konkreten Energiesparcheck vor Ort und Unterstützung bei der Umsetzung gewährleisten. Im Caritashaus St. Josef stehen z.B. Computer zu Verfügung für diejenigen, die ihre Wohnung verloren haben und eine neue suchen - digitale Teilhabe ganz konkret. Es gibt Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt: Manche haben es extrem schwer, eine Wohnung angeboten zu bekommen - aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer sozialen Situation. Im Rahmen der Armutswoche macht der Caritasverband auf die schwierige Situation aufmerksam.  Es fehlen vor allem bezahlbare Wohnungen.  Eine weitere Forderung: Wohnkontingente für wohnungslose Menschen sollen bereitgestellt werden. Hier sind auch die kircheneigenen Siedlungswerke gefordert. Diese Frage nehme ich mit für mein Gespräch mit unserem eigenen Siedlungswerk. 

Und eine andere Frage will ich zurück in Mainz diskutieren: Wir wollen die Kirchensteuereinnahmen aus der Energiepreispauschale nicht in den großen Topf des Bistumshaushalts fließen lassen. Das haben wir schon entschieden. Das Geld soll besonders von der Energiekrise Betroffenen zukommen. Wohnraum für Wohnungslose in den Wintermonaten - Unterstützung für diejenigen, denen aufgrund von Energie- und Mietschulden die Wohnungsräumung droht. Dieses Geld wäre nicht schlecht investiert, oder?

Wie wird der Winter? Keiner weiß es so genau, was wirklich auf uns zukommt. Wir machen uns viele Gedanken, ob wir die Kirchen kalt lassen können, wie wir Energie sparen in unseren Gemeindezentren. Alles notwendig und richtig. Ich bin aber auch dankbar, dass ich heute noch einmal eine ganz andere Dimension der Frage "Wie wird der Winter?" kennenlernen konnte. Dankbar bin zu wissen, dass wir als Kirche mit unsrer Caritas und unseren Mitteln aus der Kirchensteuer nah beim Menschen dort Hilfe anbieten können, wo es Lücken in unserem Sozialsystem gibt. Evangelium konkret. Ich sitze im Auto auf dem Heimweg. Die Ausfallstraße zur Autobahn führt mich ganz nahe an jenem Schlafplatz vorbei, den ich mit der Straßenambulanz aufgesucht habe. Wenn man es weiß, hat man auch einen Blick dafür.Ich kann gut verstehen, warum Frau Helios meinte: die Straßenambulanz ist ein Herzensprojekt von uns!

Im Gespräch mit der Projektleitung