Zu den Anfängen der Gemeinde

aus: Festschrift der Pfarrgemeinde St. Morus anläßlich des 25jährigen Bestehens 1963-1988, Gießen, Juni 1988

In einer Holzbaracke fing alles an. Krieg, Vertreibung und Besetzung hatten viele Menschen nach Gießen geführt, darunter auch viele Katholiken. Vor dem Krieg lebten etwa viertausend Katholiken in unserer Stadt; alle gehörten zur einzigen Gemeinde St. Bonifatius. Im Lauf der fünfziger Jahre stieg die Zahl der Katholiken auf etwa zwanzigtausend. Im Osten der Stadt haben sich viele niedergelassen. Herr Pfarrer Dr. Friedrich Lutz, Seelsorger beim amerikanischen Labour Service, versammelte diese mehr und mehr um einen Altar in einer Baracke in der Licher Straße, die auch schon polnischen Kriegsgefangenen als Gottesdienstraum gedient hatte. Es war die St.-Georgs-Kapelle.

1959 wurde Herr Dr. Lutz Pfarrer in Bad Nauheim. Inzwischen hatte sich in der Baracke eine recht lebendige Gottesdienstgemeinde gebildet. Nach kurzer Zeit der Verwaisung wurde Herr Kaplan Christian Hübener von St. Bonifatius mit ihrer Betreuung beauftragt. Er selbst berichtet über sein Wirken in Gießen...

Aller Anfang ist schwer - aller Anfang ist heiter

von Christian Hübener

Im Frühjahr 1959 wurde ich als Kaplan nach Gießen, St. Bonifatius versetzt. Sehr bald schon wurde ich mit der Seelsorge von Gießen Ost betraut. Im Jahre 1961 wurde ich Pfarrektor von St. Thomas Morus, 1963 Pfarrer, unmittelbar nach dem Selbständigwerden der Pfarrei zog ich in eine kleine Dachwohnung in der Grünberger Straße. Die Rückbindung an die Mutterpfarrei St. Bonifatius und an das dortige Pfarrbüro war sehr hilfreich. Pfarrer Deuster hatte die Abtrennung der Pfarrei großzügig begleitet und mitvollzogen.

Schon vor dieser Zeit hatte sich im Osten der Stadt Gießen so etwas wie eine neue Gemeinde gebildet. Ihre Mitte war die Georgskapelle, eine Holzbaracke mit etwa 150 Sitzplätzen. Sie war so niedrig, daß die am Fenster Sitzenden beim Aufstehen fast die Decke berührten. Im Sommer war es oft unerträglich heiß, im Winter bisweilen so kalt, daß gegen Ende der Heiligen Messe das Wasser im Kännchen gefroren war. Wasser hatten wir in der Kapelle nicht, es mußte im Auto in Kannen und Eimern herangefahren werden.

Dr. Friedrich Lutz hatte die Gemeinde gesammelt und die ersten Weichen gestellt. Das Gelände für die neue Kirche war schon vorgesehen, auch der Name Thomas Morus bestimmt. Als ich 1959 Herrn Dr. Lutz ablöste, der Pfarrer meiner Heimatgemeinde Bad Nauheim geworden war, sollte ich ihn auch als Seelsorger der sog. Labour Service Einheiten ablösen, arbeitsdienstähnliche Einheiten, die im Dienst der US-Armee standen. Der Pfarrer sollte auch eine Uniform bekommen, im Offiziersrang versteht sich. Da blieb mir doch ein wenig die Luft weg: was sollte ich tun? Selten war ich so unsicher. Aber das für mich sehr fremde, ja fast unlösbare Problem löste sich von selbst: in den Wochen meines Anfangens in Gießen Ost wurden die Einheiten aufgelöst und verschwanden ersatzlos. Gern denke ich an die Vorbereitungen des geplanten Kirchbaus zurück. Die Gemeinde sammelte sehr großherzig, monatlich kamen bis zu 1000,- DM in den Kollekten im Gottesdienst ein. Mit den Herren des Stiftungsrates machten wir die eine und andere Fahrt, um Kirchenneubauten zu besichtigen. Dann entschlossen wir uns für den Architekten, der später auch einen größeren, zweiten Plan dann verwirklichte. Die Zusammenarbeit in diesem Gremium des Stiftungsrates war für mich eine entscheidende Erfahrung. Wir hatten einen Konferenzstil verabredet, der es erlaubte, die anstehenden Fragen meist innerhalb einer Stunde, meist an Dienstagen nach der Abendmesse zu erledigen. Einen Pfarrgemeinderat gab es noch nicht. Aber es fehlte nie an Menschen, Männern und Frauen, die mitdachten, mit entschieden und vor allem auch mit handelten.

Was ich in der Georgskapelle vorfand, war eine kleine, aber sehr rege und aufmerksame Gemeinde. Das 2. Vatikanische Konzil begann in diesen Jahren. An einem Sonntag begann ich ohne Vorankündigung, die Eucharistiefeier zum Volke hin (versus populum) zu feiern.

Der bewegliche Holzaltar erlaubte diese Umstellung ohne jede Schwierigkeit. Später haben wir erfahren, daß diese Stiländerung in der ganzen Kirche vor genommen wurde. Man soll alte und neue Formen nicht gegeneinander ausspielen. Aber diese neue Form des Gottesdienstes bindet den Priester stärker in die Gemeinde ein. Er ist Leiter der Gemeinde, sicher auch Vater, aber er ist auch Bruder, Mitchrist und umsteht mit der ganzen Gemeinde gleichsam den Altar.

Die Jugendarbeit damals ruhte vor allem auf Verbänden, die im ganzen Stadtgebiet, also auch in den Nachbarpfarreien tätig waren. Der Stamm der Pfadfinder war sehr groß, kleiner war die Gruppe des Bundes Neudeutschland. Es war für diese beiden Gruppen nicht immer leicht, zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit und zu gegenseitiger Anerkennung zu finden. Eine gemeinsame Romfahrt im Sommer 1963 brachte die Gruppen einander näher. Sehr hilfreich erwies sich, daß die Leiter dieser beiden Gruppen auch das Küsteramt in der Georgskapelle übernahmen: zuerst Klaus Segieth von der Gruppe Neudeutschland, später Franz Steinhoff von den Pfadfindern. Auch an den Dienst des Küsters, Herrn Beyer, den ich von Dr. Lutz übernommen hatte, denke ich gern und dankbar zurück.

Wir Geistlichen hatten damals sehr viel Schulstunden zu halten, 16 bis 20 pro Woche. Auch die Beerdigungen waren sehr zahlreich, zumal durch die vielen Todesfälle der im Pfarrgebiet liegenden Heil- und Pflegeanstalten. In dieser Anstalt fand ich damals auf 12 Stationen über 800 Patienten vor. Ich verbrachte dort mit den Kranken sehr viel Zeit, beim einen mehr, bei anderen weniger. Ich sah viel Elend, eine eigene Welt mit ihren Gesetzlichkeiten. Mancher Patient ist mir noch lebhaft vor Augen. Wenn ich an Besuchstagen auch mit den Angehörigen der Patienten zu sammenkam, empfand ich die Last der dortigen Krankheiten besonders drückend.

Zur Gemeinde gehörten auch die Barackensiedlung am Eulenkopf und Wohnungen des Notaufnahmelagers. Immer wieder hörte ich später von diesen Menschen, durch die Arbeit des Prof. Richter, der mit seinen Studenten dort tätig war. An die eine und andere Haustaufe kann ich mich erinnern. Manchmal waren die Familien so kinderreich, daß die Mutter zur Taufe nicht in die Kapelle kommen konnte. So taufte ich den einen oder anderen Neugeborenen in der Barackenwohnung. Ich sah viel Elend und Not bei Kindern und Jugendlichen aber ich erlebte auch eine sehr lebendige und menschliche Nachbarschaft, wenn alle bei einer Taufe zusammenkamen und miteinander feierten. Die Kultur des Festes war dort oft stärker und intensiver ausgebildet als dies in anderen gut situierten Familien der Fall war.

In meiner Gießener Zeit wurde ich vom Kaplan zum Pfarrer. Ich erfuhr, wie ich getragen war von der Gemeinde.

Ich erlebte auch, wie manche Probleme der entstehenden Gemeinde sich lösten. Immer wieder traten Helfer auf, zur rechten Zeit, meist nicht gesucht und gerufen. So habe. ich später einmal formuliert: sicher muß man seine Rolle auf der Bühne des Lebens spielen, möglichst auch keine Termine verpassen. Aber man muß auch die Kunst entwickeln, gleichzeitig Zuschauer zu sein und abzuwarten, wie das eine und andere sich fügt. So habe ich damals auch meinen Abschied gesehen. Eine größere Kirche wurde gebaut, die Strukturen änderten sich, die Gemeinde wurde mehr und mehr selbständig. An meine Gießener Jahre und an viele Menschen denke ich dankbar zurück.

Inzwischen war aus der Barackengemeinde eine Pfarrei geworden. Am 15. Februar 1963 hatte Bischof Dr. Hermann Volk das Pfarrektorat zu einer Pfarrkuratie erhoben. Sie trägt seitdem den Namen Pfarrei St. Thomas Morus. Die Planung für eine neue Kirche wurde mit großem Einsatz betrieben; mitten in dieser Arbeit wurde Herr Pfarrer Hübener als Hochschullehrer nach Worms berufen. Herr Kaplan Grewe von St. Bonifatius verwaltete die Pfarrstelle bis zum 31. Mai 1964. Sein Nachfolger wurde Pfarrer Martin Luley, Herr Dekan Deuster führte ihn in der Georgskapelle feierlich in sein Amt ein.

Unter seiner Leitung wird die Pfarrei weiter ausgestaltet und das Gemeindeleben entwickelt. Es waren gute Voraussetzungen dafür vorhanden. Vor allem gab es eine Reihe von Frauen, Männern und Jugendlichen, die bereit war, mit dem Pfarrer und der Gemeindereferentin, Frau Julia Hickl, zusammenzuarbeiten. Es war in einem besonderen Maße die Kunst des Pfarrers, Ideen und Arbeitsbereitschaft vieler Gemeindemit glieder in seinem Sinne einzusetzen und so Gemeinde zu bilden.

In der neuen Kirche lag Herrn Pfarrer Luley besonders die Liturgie am Herzen. Dafür wollte er den großen Altarraum haben, der mitten in die Gemeinde hineinreicht. Deshalb die Veränderung des ersten Kirchenbau planes in diesem Sinne. Künstlerisch wertvolle große Fenster und eine gute Orgel sollten das liturgische Geschehen aus dem alltäglichen her ausheben. Zur Ausgestaltung der Liturgie wurde eine große Ministran tengruppe gegründet und geschult.

Gießens herausragender Kirchenmusiker Otto Siegler begründete die Kirchenmusik in St. Thomas Morus. Der Kirchenchor wurde unter dem Chorleiter Johannes Gustav neu belebt, und alles, was sonst zum Gottesdienst gehört, war stets aufs beste vorbereitet und gepflegt durch den Küster, Herrn Ernst Fitz, und seine Familie. Vergessen ist auch nicht Frau Elisabeth Medwed. Sie war eine ganz moderne Pfarrhaushälterin und hat sich um das Wohl der ganzen Gemeinde mindestens ebenso sehr gesorgt wie um das Wohl des Pfarrers. Es war eine Zeit des Aufbaus, die auch Raum für Neues bot. Viele haben mitgedacht und mitgearbeitet, besonders der Pfarrgemeinderat.