Schmuckband Kreuzgang

Impuls zum 25. Sonntag im Jahreskreis

Schubladen (c) .
Schubladen
Datum:
Sa. 18. Sept. 2021
Von:
W. Schmidt

Impuls zum

  1. Sonntag im Jahreskreis

19.9.2021

 

Schubladen und Ordner machen das Leben einfacher: von außen beschriftet, dass alles seine Ordnung hat und wir unsere Sachen finden: Steuer, Krankenkasse, Versicherungen usw. Manche meinen, wir könnten es mit Menschen ebenso machen. Verschiedene Schubladen für verschiedene Menschentypen.

Emanze, ADHS-Kind, Narzisst, Beamter, Hartz-IVler, … So wird die Komplexität der menschlichen Welt reduziert und wir sortieren die Menschen in unser Weltbild. Der Mercedes-Fahrer, die Gutmenschen, die Banker, die Muslime sind halt so.

Und wir sind auch auf der Suche nach Schubladen für uns selbst. Wer sind wir? Wer bin ich? Wo gehöre ich dazu? Wir suchen Antworten auf diese Fragen, auch in Abgrenzung zu dem, wer oder was wir nicht sind. Wir sind anders als die anderen.

Weil unsere Eigenart uns vertraut ist und die Menschen, die in unsere Schublade passen, uns ebenfalls vertraut sind, sind wir versucht, unsere Schublade zum Maßstab zu machen und ‚Normal‘ darauf zu schreiben: wenn nun andere mit ihrem Anderssein zu uns gehören wollen, erleben wir sie als Bedrohung. Es kann nicht sein, dass jemand von uns so ganz anders ist als ich. Wer sind wir denn dann noch? Jeder muss schon in seiner Schublade bleiben. Wenn der ‚Nazi‘, die ‚Linke‘, der ‚Banker‘ und die ‚Muslima‘, die Staatsanwältin auch noch in meine Schublade wollen, dann ist Chaos und Durcheinander.

Am 19.9.1941 trat eine Polizeiverordnung in Kraft, wonach alle Juden im Deutschen Reich gezwungen waren, den Judenstern zu tragen. Damit waren sie auch nach außen sichtbar in einer Schublade gefangen. Die Partei hatte ‚Volksfeinde‘ auf diese Schublade geschrieben. Den Juden wurden schon immer eher negative Attribute zugeschrieben. Das war ganz praktisch für alle, die keine Juden waren: die sind Juden, die sind schlecht - ich bin kein Jude, also bin ich nicht schlecht; Banker sind rücksichtslos und gierig - ich bin kein Banker, also …; Rassisten sind menschenfeindlich - ich bin kein Rassist, …; Muslime sind frauenfeindlich - ich bin kein Muslim, …; Veganer sind ideologisch verbohrt - ich bin kein Veganer, …

Wie wäre es denn, wenn unsere Identität so gefestigt wäre, dass jemand, der anders ist, keine Bedrohung mehr für uns sein müsste? Wie wäre es, wenn wir und unserer Würde so sehr bewusst wären, dass wir zugeben könnten, dass auch wir die negativen Anteile von den anderen in uns haben? Wie wäre es, wenn wir eine Gesellschaft wären, in der es normal ist, dass wir verschieden sind und dazugehören?

Wie wäre es, wenn wir niemanden, auch uns selbst nicht, in Schubladen packen und auf das reduzieren würden, was außen draufsteht? Wenn wir stattdessen als Individuum und als Gesellschaft ganz unterschiedlich und widersprüchlich sein könnten? Wenn wir unsere Eigenheiten entfalten und uns gegenseitig bereichern? Uns manchmal fremd sind und nicht verstehen - und das aushalten können?

Ja, das ist ein Traum - aber bekennen wir nicht, dass wir Gottes Kinder sind, bedingungslos von ihm geliebt? Wie sollten wir das nicht ernst nehmen?! Und ja, es wird auch anstrengend werden - aber es lohnt sich. Es ist auf jeden Fall besser als das Schubladendenken mit seinen fatalen Konsequenzen. Der Judenstern sollte uns Mahnung und Ansporn sein.

Klaus Metzger-Beck, aus: Die Botschaft heute 7-2021, S. 270