Eigentlich wollte ich ein Stück Schokolade nehmen. Irgendwas Exotisches, Chili in Honig-Pflaume oder so. Ich habe mich dann aber doch für die Rosine entschieden. Sie gab dem Experiment schließlich ihren Namen: Rosinenübung – eine Übung für mehr Achtsamkeit. Was ich wohl an einer Rosine Neues, Ungeahntes entdecke? Ich bin gespannt.
Sie liegt vor mir auf dem Tisch. Klein, oval, rötlich-braun und runzelig. Sie ist so klein, dass ich sie zwischen die Finger nehme und sie näher heranhole. Rau. Das bemerken meine Fingerkuppen sofort. Sie fühlt sich rau an und trocken. Irgendwie faltig. Und wenn man sie länger mit den Fingern hält, hinterlässt sie klebrig-feuchte Spuren. Mit den Kuppen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger bewege ich sie hin und her. Das Morgenlicht legt sich zwischen die Falten und glänzt silbern. Ich halte die Rosine gegen das Licht. Es schimmert bernsteinfarben hindurch. Die Falten wirken wie ein klitzekleiner geraffter Rock. Sie zeichnen dunkelbraune Konturen. Woran erinnert mich nur die Oberfläche? Vielleicht an Gummibärchen? Aber die sind glatter. Ich möchte dran riechen.
Wie gut. Das ist der nächste Schritt der Übung. Ich zieh die Luft ein, durch mein Rosinen-Finger-Nest. Hm. So riechen Rosinen? Ich rieche vor allem eins – Sonnenblumenöl. Kernig, nussig, leicht ranzig. Das kann doch nicht alles sein. Ich drücke die Rosine, wieder und wieder. Vielleicht verrät sie so mehr von ihrem Duft. Sie wird weicher und reißt an einer Stelle auf. Ah, jetzt. Eine andere Prise taucht auf. Leicht süsslich, rosinig halt. Meine Geschmacksnerven erinnern sich an echten fränkischen Käsekuchen. Wasser läuft mir im Mund zusammen. Doch schon ist die Prise wieder weg. Zurück bleibt der Duft nach Sonnenblumenöl.
Was ist denn der nächste Schritt? Ich soll mir die Rosine ans Ohr halten und horchen. Naja. Da erwarte ich eigentlich nicht zu viel. Wie soll eine Rosine Geräusche machen? Ich halte sie ans Ohr, bewege sie mit den Fingerkuppen hin und her und drücke sie fest. Ich bin überrascht. Ich höre doch etwas. Ganz leise, ganz fein. Ich muss genau hinhören. Das Geräusch erinnert mich an – klebrigen Ohrenschmalz. Es knistert, weich und geschmeidig. Aber das ist kein appetitlicher Vergleich für eine Rosine.
Mittlerweile habe ich die Rosine weichgeknetet. Wie eine altmodische Bademütze wölbt sie sich über meine Daumenkuppe. Ich überspringe den vierten Schritt der Übung. Es macht wohl jetzt Sinn, sie in den Mund zu nehmen, bevor sie sich noch weiter verändert.
Wie in der Anleitung beschrieben, lege ich sie mir zwischen die Lippen. Ich merke, wie sich meine Zunge neugierig auf den Weg macht. Sie möchte nachsehen, was da los ist. Aber sie darf noch nicht. Ich hole sie zurück. Ein leichter Zuckergeschmack verbreitet sich im Mund. Die Lippen betasten die Rosine. Weich und wulstig, fast wie sie selbst. Das finden sie angenehm. Jetzt endlich die Zunge. Sie holt die Rosine in den Mund, dreht sie, schiebt sie hin und her. Kurzfristig strömt Süßes in alle Richtungen, auch etwas Harziges. Doch das lässt nach. Überraschend schnell.
Weich und erwartungsvoll liegt die Rosine auf meiner Zungenspitze. Speichel sammelt sich im Mund. Beim Schlucken schmecke ich Süßes und Fruchtiges und Beeriges. Meine Zunge untersucht die aufgerissene Stelle, drückt sie gegen den Gaumen. Hier ist es besonders weich und süß. Die Zunge schiebt die Rosine zwischen die Zähne. Die beginnen zu kauen. Ein erster vorsichtiger Biss, quietschig, klebrig. Ein Feuerwerk an Süße und Fruchtigkeit schießt mir in den Mundraum. Noch mehr Wasser sammelt sich an. Wieder und wieder malmen die Zähne aufeinander. Die Zunge kommt zu Hilfe. Sie dreht die Rosine, so dass die Zähne wirklich alles zerkauen können. Wo ist sie hin? Sie hat sich aufgelöst. In ganz kleine Teile. Beim Schlucken fallen sie nicht auf. Zurück bleibt – nichts.
Was mir bei diesem Experiment aufgefallen ist: Eine Rosine riecht nach Sonnenblumenöl. Sie macht Geräusche und schmeckt fad, wenn sie unbeschädigt auf der Zunge liegt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Was ich aber viel spannender fand: Wie viel Zeit man mit so einem kleinen Ding verbringen kann. Wie es hilft, seine ganze Aufmerksamkeit und seine Sinne darauf zu fokussieren. Und wie herausfordernd es sein kann, all seine Empfindungen zu beschreiben. Wie ich ganz in die Tiefe gehen muss, um dennoch kaum Worte zu finden für das, was ich rieche und schmecke. Ich glaube, das nächste Mal nehme ich ein Stück Schokolade.
Elfriede Klauer, In: Pfarrbriefservice.de