„Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit“
Predigtgedanken zum Jahreswechsel
Heilig Geist/Arheilgen 2023/2024
Liebe Schwestern und Brüder,
in ihr leben wir, bewegen wir uns und sind wir.
Die Uhr, die fast alle am Handgelenk tragen, hilft uns, sie zu messen und uns in ihr zu orientieren.
Der Blick in den Wandkalender zeigt uns ihr Vergehen an:
Schon wieder liegt ein neues Jahr vor uns. Wie ein unbeschriebenes Blatt.
Was aber ist die Zeit?
Für Augustinus war sie ein großes Rätsel:
„Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es“, sinniert er in seinen „Confessiones“, „will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
Wirklich, aber so, dass sie sich gleich wieder entzieht, scheint sie immer nur als Augenblick:
Als ein Punkt, durch den, wie durch ein Nadelöhr, das „Noch nicht“ der Zukunft hindurchzieht und verwandelt wird in das „Nicht mehr“ der Vergangenheit.
Wir bekommen sie nie wirklich zu fassen. Und erfahren sie doch und uns in ihr als durch und durch zeitliche Wesen:
Wenn wir uns langweilen, spüren wir, wie sie verrinnt.
Sie kann sich dehnen in quälenden Stunden des Wartens.
Und sie vergeht wie im Flug, wenn wir glücklich sind.
Der Streifen „Gegenwart“, den wir bewohnen, ist schmal und doch zugleich die wesentliche Dimension, in der sich unser Leben abspielt und entscheidet.
Der Schriftsteller Gottfried Keller sieht uns Menschen als Pilger, die durch die Zeit wandern:
„Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
wir ziehen durch sie hin“,
so beginnt eines seiner Gedichte.
Für die frühe Christenheit hatte die Zeit eine besondere Qualität: „Die Zeit ist knapp.“ „Seid wachsam. Ihr kennt weder den Tag noch die Stunde, in der der Menschensohn kommt.“
Die Gegenwart steht ganz in Zeichen der Erwartung des Kommenden. Diese Erwartung aber entzündet sich an dem, was in der Vergangenheit aufgebrochen ist und immer wieder in der Erinnerung vergegenwärtigt wird:
„Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“, heißt es im Hebräerbrief.
So haben auch wir, auch wenn wir nicht mehr in der drängenden Spannung der Naherwartung unseren Glauben leben, es an Weihnachten gefeiert:
Den Anbruch der Fülle der Zeit in ihm, dem Menschgewordenen, der uns zu Zeugen der Hoffnung macht:
Was einmal begonnen hat, was für einen kurzen, hellen Moment in Jesus aufgeleuchtet ist,
die Güte und Menschenfreundlichkeit, die trotz allem doch möglich sind,
die Freiheit, die dem sich eröffnet, der auf Gottes Gegenwart vertraut,
Gerechtigkeit auch für die Kleinen, Gescheiterten, für die am Rand –
das soll und wird sich überall und für alle durchsetzen.
Das Versprechen, das Gott in seinem menschgewordenen Wort der Liebe in die Zeit hineingesprochen hat, taucht die Zukunft in das Licht der Verheißung, dass dieses Versprechen eingelöst wird.
Auch für wir, Glaubendende einer späten Epoche, sind in eine Spannung von „Schon“ und „Noch nicht“ hineingestellt, das unsere Gegenwart qualifiziert:
In den Begegnungen des Tages, den Aufgaben und Sorgen, die er bringen mag, herausgefordert durch die „Zeichen der Zeit“, gilt es im Zeitlichen und Vorläufigen das Ewige zu entdecken,
den Ewigen, der auch noch in den Banalitäten des Alltags auf uns zukommt und dem wir begegnen können, wo wir in Glaube, Hoffnung und Liebe annehmen, was uns in unserer Zeit zugeschickt und manchmal auch zugemutet wird.
„Freut euch im Herrn zu jeder Zeit“, schreibt Paulus.
Und manchmal spüren wir vielleicht wirklich etwas davon, wie unsere Zeit sich der Ewigkeit Gottes öffnet:
Wenn wir uns selbst vergessen, in der Hingabe an eine Aufgabe, in der Liebe zu einem Menschen, berührt durch das Schöne, im Hören einer Musik
und ganz im gegenwärtigen Moment aufgehen,
verliert sich die Angst vor der verrinnenden Zeit und davor, selbst mit ihr zu vergehen.
Dann berührt uns eine Ahnung der Ewigkeit, die ja vielleicht genau das ist: erfüllte Gegenwart.
Und wir fühlen uns für einen Augenblick mit unserem Herzen und unseren Gedanken bewahrt in jenem Frieden, der alles Verstehen übersteigt.
Und fassen Mut und neues Vertrauen für unseren Pilgerweg durch die Zeit.
„Sorgt euch nicht“, schreibt der Apostel, „bringt in jeder Lage bittend und“ - angesichts dessen, was alles noch nicht erfüllt ist, was an Verheißung schmerzlich noch aussteht – „flehend eure Bitten mit Dank vor Gott“
„Mit Dank“!
Dem Dank für alles Zeitliche, mit dem wir in ein neues Jahr gehen,
dem Dank, in den auch Gottfried Kellers Gedicht ausklingt:
„Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem Blut darauf,
bis ihn der Strom vertreibt.
An dich du wunderbare Welt,
du Schönheit ohne End
auch ich schreib meinen Lebenslauf
auf dieses Pergament.“
Amen