Liebe Leserin, lieber Leser,
der Evangelist Johannes ist ein Sprachkünstler. Seine Texte sind nicht einfach und manchmal erst nach mehrmaligem Lesen zu verstehen. Das heutige Evangelium ist ein Gebet Jesu für die ihm anvertrauten Menschen – also auch für uns. Jesus bittet Gott, seinen Vater darum, dass wir eine Einheit bilden und dass er uns vor dem Bösen bewahre.
In jener Zeit
erhob Jesus seine Augen zum Himmel und sprach:
Vater, ich habe deinen Namen
den Menschen offenbart,
die du mir aus der Welt gegeben hast.
Heiliger Vater,
bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast,
damit sie eins sind wie wir!
Solange ich bei ihnen war,
bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast.
Und ich habe sie behütet
und keiner von ihnen ging verloren,
außer dem Sohn des Verderbens,
damit sich die Schrift erfüllte.
Aber jetzt komme ich zu dir
und rede dies noch in der Welt,
damit sie meine Freude in Fülle in sich haben.
Ich habe ihnen dein Wort gegeben
und die Welt hat sie gehasst,
weil sie nicht von der Welt sind,
wie auch ich nicht von der Welt bin.
Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst,
sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst.
Sie sind nicht von der Welt,
wie auch ich nicht von der Welt bin.
Heilige sie in der Wahrheit;
dein Wort ist Wahrheit.
Wie du mich in die Welt gesandt hast,
so habe auch ich sie in die Welt gesandt.
Und ich heilige mich für sie,
damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind.
"Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir." Wir spüren die Bedeutung des Auftrags an uns und zugleich, dass wir ihn nicht erfüllen können. Die Jünger und Jüngerinnen – wir - sollen eins sein, wie der Vater mit Jesus und wie Jesus mit dem Vater eins ist. Wir sollen also die Einheit des dreieinigen Gottes in der Welt sichtbar machen. Wird da nicht Übermenschliches von uns erwartet? - Doch Jesus kennt uns Menschen. Er weiß, dass dies keiner aus sich selbst erreichen kann. Darum bittet er zuerst: "Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast." "Heiliger Vater", spricht er Gott an. Der Name steht für die Person und zeigt ihr wahres Wesen. Gott ist heilig und er ist Vater. Gottes Art ist anders als die Art der Menschen. Seine Liebe, sein Erbarmen, seine Gerechtigkeit übertrifft jedes menschliche Maß. Er ist wie ein guter Vater/wie eine gute Mutter, für uns da. Aber jede menschliche Mutter und jeder menschliche Vater können, weil sie eben Menschen sind, nur ein schwaches Abbild der göttlichen Liebe und Sorge für uns sein.
Jesus sieht seine Aufgabe darin, diesen Namen Gottes, sein Wesen, seine Art, seinen Jüngerinnen und Jüngern mitzugeben. Darum betet er: "Ich habe ihnen dein Wort gegeben." Das Johannesevangelium beginnt mit den Worten: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit."
Gott hat uns seine Botschaft nicht in Form eines Textes mitgeteilt, sondern in der eines Menschen, in der lebendigen Person Jesus. Durch das ganze Sein und Leben Jesu, durch seine Handlungen und Worte redet Gott zu uns. Gott hat uns also seinen Namen, sich selber, in Jesus gegeben. In Jesus wollte Gott sich uns menschlich schenken. Jesus gibt sich uns als lebendiges Wort Gottes mit der Absicht: "Damit sie eins sind wie wir".
Unsere Aufgabe ist es deshalb, uns mit der Person Jesus vertraut zu machen und uns um eine persönliche Beziehung zu ihm zu bemühen. So können wir Christen werden, sein und bleiben.
Je mehr wir die Art Jesu annehmen, desto mehr werden wir mit all denen zur Einheit zusammenwachsen, die mit Jesus leben. Die Einheit ist also nicht nur die Aufgabe von ein paar besonders Interessierten, sondern von allen, die sich zu Jesu Jüngern zählen.
Wir sind gesendet in diese Welt. Die Menschen, denen wir begegnen, sollen spüren, dass der Name Gottes in uns lebendig ist. Jesus Christus - und seine Art den Namen Gottes zu leben - soll durch uns in der Welt sichtbar und erfahrbar werden. Welch eine individuelle Herausforderung und Aufgabe!
Ich wünsche uns für die neue Woche, dass wir uns Zeit nehmen können, uns dieser Würde und dieser Sendung als Getaufte und Gefirmte wieder neu bewusst zu machen.
Gabriele Maurer, Pastorale Mitarbeiterin