aus der Gießener Allgemeinen vom 25. Juli 2020
Ein ganz liebenswürdiger Mann sprach mich letztens an: "Wissen sie, es ist doch wohl Gott, der entscheidet, wann wir sterben", raunte er mir verschwörerisch zu. Die ganzen Corona-Schutzmaßnahmen seien ein Zeichen von Unglaube. "Nun ja", entgegnete ich, "das mag vielleicht so sein. Aber ganz sicher ist es unsere Verantwortung und Entscheidung, unseren Verstand und unsere Vernunft, die Gott uns gegeben hat, ausgiebig zu benutzen. Und das bewirkt, dass wir Maskenpflicht und Abstandsregeln zum Schutz des Lebens ernst nehmen."
Er blickte erst unter sich und dann mich etwas hilflos an. Wir trennten uns im Guten und doch ist mir rätselhaft, wie in unserer postmodernen, aufgeklärten Gesellschaft Christen solchen Unfug denken können.
Das Christentum ist eine Religion, die einen beachtlichen therapeutischen Ansatz verfolgt. Wer an Gott als an einen Erlöser glaubt, findet in allen Abgründen den Grund zur Hoffnung und das Leben. "Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt, ihr werdet es erhalten." Poetisch, aber unrealistisch?
"Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten." (Joh, 15,7)
Das Zitat aus dem Johannesevangelium (15,7) hat Generationen von Menschen getröstet und ihnen Kraft gespendet. Das Heil für alle Bewohner dieses Planeten kommt von einer göttlichen Kraft, kommt von oben. Bildhaft gesprochen. Aber unten, bei uns in unseren Herzen, wirkt es in den Sinnen, in Verstand und Vernunft und im Glauben.
Ich weiß, das klingt für manche ziemlich naiv. Für mich allerdings ist es ein sympathischer Gedanke, einander nicht auszuschließen. Bleibt: Mit ein bisschen Güte und Freundlichkeit, mit ein klein wenig Rücksichtnahme und gegenseitigem Verständnis müssten wir die Krisen dieses Lebens schaffen können. Oder?