Kreuzweg
Neuer Untertitel
Wenn man in unserer Kirche an den Fensternischen entlang den Kreuzweg abgeht, fällt auf, dass Jesus auf mehreren Bildtafeln (6., 8., 11., 14. Station) gar nicht dargestellt ist. Da in allen offiziellen Titeln der Kreuzwegstationen Jesus ausdrücklich genannt wird, stellt sich
die Frage, warum die Künstlerin ihn mehrfach nicht in Szene setzt.
Die 6. Station zählt zu diesen besonderen Darstellungen: Da findet sich zumindest ein Abdruck des Gesichtes Jesu im Tuch der Veronika. Der Name Veronika ist griechischen Ursprungs und bedeutet übersetzt: wahres Bild. Die Aussage dieser Szene ist vieldeutig. Eine mögliche Deutung lautet: Von Jesus, dem Sohn Gottes, können wir uns kein umfassendes Bild machen; wir haben von ihm nur so etwas wie einen Abdruck, eine Spiegelung. Und deshalb ist es manchmal angemessener, ihn nicht direkt darzustellen, vielmehr das, was er auslöst und bewirkt, hier: das Mitleiden der Veronika - und in der 8. Station die Trauer der Frauen am Weg. Die Station „Jesus begegnet den weinenden Frauen“ hat als biblischen Bezugspunkt einen Vers aus dem Lukas-Evangelium: „Es folgte eine große Menschenmenge, darunter auch Frauen, die um ihn klagten und weinten“ (Lk 23,27). Die genannten Frauen heben sich vom übrigen
Pulk ab durch ihre Anteilnahme und ihre Trauer. Ihre Tränen zeigen, welchen Platz Jesus in ihren Herzen hat, wie sehr sie sein Leiden und das ihm angetane Unrecht schmerzt.
Jesus ist in diesem Bild gespiegelt anwesend - im Mitgefühl der Frauen. Und die Darstellung der Künstlerin trägt einen zusätzlichen Aspekt bei: Man gewinnt den Eindruck, dass die beiden Frauen sich in ihrer Trauer gegenseitig stützen und trösten. Ich nehme dies als Botschaft an mich, an uns: Dort, wo Menschen um andere Menschen trauern, sich vom Leid anderer betreffen lassen oder Unrecht beklagen, und dort, wo Menschen einander beistehen in Not und Bedrängnis, dort ist Jesus nahe, auch wenn er nicht ausdrücklich vorkommt. Tränen können ein Zugang sein zu seiner verborgenen Gegenwart.