Über Flüchtlinge wird in diesen Tagen viel gesprochen. In diesem Zusammenhang wird zunehmend die Erinnerung an die Gründungszeit der Bundesrepublik beschworen, die gleich zu Anfang ihrer Geschichte mit der Aufgabe fertig werden musste, Millionen von Vertriebenen aus den Ostgebieten im neuen Staat zu integrieren.
Diese Flüchtlinge hatten den heute eintreffenden zumindest eins voraus: sie waren schon deutschsprachig. Doch als im selben Land grundverschiedene Mentalitäten und Dialekte aufeinandertrafen, überforderte auch das häufig schon die Bereitschaft, neu Ankommende willkomen zu heißen.
Die Journalistin Dörte Hansen stellt in ihrem Debütroman "Altes Land" (erschienen im März 2015) eine Vertreterin dieser Flüchtlingsgeneration in den Mittelpunkt. Vera von Kamcke strandete als Fünfjährige mit ihrer Mutter Hildegard auf dem Hof der Ida Eckhoff und gleich zu Anfang wird beiden klar gemacht, wo ihr Platz ist. Eine ungeheizte Kammer unterm Dach und nachts gestohlene Milch halten die Neuankömmlinge am Leben, doch mit stoischer Zähigkeit erobern sie sich ihr Bleiberecht. Hildegard heiratet später sogar den kriegsversehrten und schwer traumatisierten Bauernsohn und sichert dadurch ihrer Tochter das Recht auf das Hauserbe, doch heimisch werden beide dort nicht.
Vera hält als verschrobene Landzahnärztin beim Stiefvater die Stellung, allerdings ohne sich je wirklich um den Hof zu kümmern. Mutter Hildegard flieht aus Ehe und Haus. Sie findet eine in ihren Augen standesgemäßere Partie und gründet in Hamburg eine neue Familie, in der ein weiteres Mädchen geboren wird. Deren Tochter, Veras Nichte Anne wird zur zweiten Hauptperson des Romans, die den den umgekehrten Weg einschlägt und stadtflüchtig wird. Die Musikerin, deren Mann sie zugunsten einer anderen verließ, hat es satt, sich in der Musikschule des angesagten Szeneviertels bei den anspruchsvollen Müttern zu entschuldigen, weil sie "Clara-Feline am Schnuppertag nicht mit vollem Mund in die Querflöte pusten" (S.49) läßt. Sie zieht mit ihrem kleinen Sohn kurzerhand bei Tante Vera im "Alten Land" ein. Wie man sich denken kann, löst die Erweiterung der Hausgemeinschaft bei Vera keine helle Freude aus. Doch die beiden Frauen raufen sich letztendlich zusammen und als Anne vorsichtig beginnt, das alte Bauernhaus nach und nach zu restaurieren, keimt zum Schluss doch die Hoffnung auf, der Hof könne für weitere Generationen wieder Heimat werden.
Dörte Hansen verarbeitet das Stadt-Land-Thema in vielen Variationen, doch deutlich wird, dass Menschen in scheinbar sicheren Verhältnissen auch heute aus den unterschiedlichsten Gründen ihrem jeweiligen Lebensentwurf entfliehen.
Für den Rezensenten der FAZ ist denn auch "Heimatlosigkeit als Lebensthema" das Grundmotiv des Romans. Große und kleine Fluchten werden in vielerlei Spielarten beschrieben.
Da ist der Hamburger Journalist, der mit viel Getöse seinen Umzug aufs Land zelebriert und mit einer neuen Zeitschrift den Trend vermarkten will; oder die Wochenend-Land-Ausflügler, die sich beim Vollerwerbslandwirt darüber empören, dass er in seiner Apfelplantage Schädlingsbekämpfer einsetzt, weil sie doch für ihre Stadtkinder eine biologisch reine Idylle erwarten. Dörte Hansen spielt mit den vielen Klischees über Städter und Landbewohner, Übermütter und wortkarge Bauern, das alles mit einem Augenzwinkern und der Möglichkeit, sich als Leser/in doch auch etwas ertappt zu fühlen.
Trotzdem bleibt als Quintessenz die auch heute wieder bedenkenswerte Erkenntnis, wie stark die grundlegenden Umbrüche durch Krieg und Vertreibung die Betroffenen für ihr ganzes Leben prägen. Wer es erlebt hat, mag dies für eine Binsenweisheit halten. Aber Dörte Hansen hat mit ihrer unkomplizierten Erzählweise und dem kontrastierenden Blick auf die Lebenswelt der jüngeren Generation - repräsentiert durch Enkelin/Nichte Anne - ein Buch vorgelegt, das den Blick auf diese existentielle Prägung öffnet, ohne ihm die sonst eher bekannte tragische Schwermut zu verleihen.
Ihre Katharina Dörnemann