Ferrante, Elena (Verfasser): Das lügenhafte Leben der Erwachsenen : Roman / Elena Ferrante ; aus dem Italienischen von Karin Krieger. - Erste Auflage. - Berlin : Suhrkamp, 2020. - 415 Seiten. - ISBN 978-3-518-42952-5. - Festeinband : EUR 24.00
Den Roman von Elena Ferrante „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ ist der erste Roman von Ferrante nach den Erfolgen der vier Bände über die Freundinnen Lila und Lenu.
Das Geschehen spielt – wie so oft bei Ferrante – in Neapel. Den Titel des Romans könnte man genauso gut „Das Leben oben und unten“ betiteln.
Ein Berg bzw. ein Hügel steht symbolisch für zwei Welten: Oben am Berg wohnen die Privilegierten, es sind die, die es von unten nach oben geschafft haben. Unten in der Stadt, in der Zona Industriale, ist die Camorra, die Armut, die Prostitution zuhause.
Die Autorin schreibt in diesem Roman über die pubertierende Giovanna, sie ist 13 Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern – beide Gymnasiallehrer – oben im Stadtteil Rio Alto, sie haben den Aufstieg geschafft. Giovanna ist eine Vorzeigetochter, kultiviert und strebsam. Doch plötzlich ändert sich alles, die Noten werden schlechter und der Ton rauer und unfreundlich und der Körper verändert sich.
Zufällig erfährt sie, dass der Vater unten im Stadtteil Industriale aufgewachsen ist und dort noch eine Schwester von ihm wohnt mit der ihre Familie nichts zu tun haben will, weil sie ungebildet und hässlich ist und als Putzfrau arbeitet. Der Vater von Giovanna. gefällt sich zwar in marxistischen Reden aber von Armut will er nichts wissen.
Giovanna gerät immer mehr mit den Eltern aneinander. Der Vater erscheint ihr inzwischen als Schwätzer und Lügner. Sie besteht darauf ihre Tante Vittoria kennen zu lernen.
Sie lernt nicht nur die Tante kennen, sondern auch ein ganz anderes wildes und drastisches Leben aber auch ein Leben voller Emotionen und Gefühle, ihre Tante konfrontiert die Nichte mit grobem Umgang und Schimpftiraden und klärt die Nichte auf über das Leben mit Männern, Liebe und Sex.
Giovanna ist von ihrer Tante fasziniert, sie möchte so werden wie sie, Tante Vittoria wird ihre Identifikationsfigur. Überall findet Giovanna nun Lügen und Heuchelei und Scheinmoral, auch in ihrer eigenen Familie und da macht Giovanna gerne mit.
Sie kostet ihre Unbeherrschtheit und ihre Lügengeschichten voll aus und macht mit boshaftem Vergnügen Vieles noch schlimmer. Bald stellt Giovanna fest, dass die Tante eine wenig geachtete unglückliche Person ist und bei dem Vergleich ihres Lebens mit dem Leben ihrer Tante lernt sie ihr eigenes Verhalten zu analysieren und zu klären. Sie wendet sich von ihrer Tante ab. So war Tante Vittoria nur vorübergehend eine Identifikationsfigur.
Als sie bei einem Abendessen mit Freunden zufällig sieht, wie der Freund ihres Vaters unter dem Tisch zärtlich den Fuß ihrer Mutter streift, verliert sie vollständig die Fassung und das Vertrauen in die Erwachsenen.
Die Autorin schildert den schwierigen Weg von Giovanna zum Erwachsenwerden über die Verwirrungen in der Jugendzeit und wie es ist ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.
Giovanna ist inzwischen 15 Jahre alt, lässt die Scheinmoral ihrer Eltern hinter sich und entwickelt ihre eigene Moral und Sitte. Am Ende sehen wir Gíovanna mit ihrer Freundin auf dem Weg nach Venedig. Das Leben liegt vor ihnen – alles ist offen.
Und da alles noch offen ist, können wir evtl. auch auf eine Fortsetzung dieses traurigen aber schönen Romans hoffen. Offen ist auch nach diesem Roman noch, wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt.
Luzia Heer