„Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden."
So beginnt das Buch „Raumpatrouille", das auf der Bühne auch Teil eines Projekts mit dem Musiker Jens Thomas ist. Memory Boy heißt das Album und zusammen widmen sie sich dem Thema „Kindheit".
Matthias Brandt, der jüngste Sohn von Willy Brandt, dem vierten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, entführt uns in seinem Debüt in seine Kindheit in die Siebzigerjahre in Bonn. Er erzählt seine 14 Geschichten aus der Sicht eines acht- bis zehnjährigen Jungen.
Vieles, das Brandt über die Siebzigerjahre schreibt, fühlt sich für Altersgenossen vertraut an. Erinnerungen an die eigene Kindheit schwingen beim Lesen der Erzählungen mit. Schon allein die Erwähnung der Fernsehserien Percy Stuart und Raumpatrouille oder die Sportschau mit Ernst Huberty, die Mondlandung der Amerikaner 1969, die Marke Bärenmarke (zum Kaffee), die Schlagersänger Ricky Shayne und James Last und das Bonanza Rad lassen Bilder vergangener Zeiten plastisch „auferstehen".
In der Geschichte „Nirgendwo sonst" erzählt Brandt z.B. von einer Übernachtung bei seinem Freund Holger. Der Abend wurde gemeinsam mit der Gastfamilie vor dem Fernsehen verbracht.
„...Gemeinsam mit Holgers Eltern hatten wir die Sendung Drei mal Neun mit Wim Thoelke angeschaut und dabei die von Holgers Mutter auf einer Platte angerichteten Champignonstreichkäse- und Salamibrote verdrückt." (S. 147)
Ja, so war das früher, werden die meisten Leser bestätigen.
Doch dann gibt es Momente im Buch, da kommen Erlebnisse und Namen ins Spiel, die sich von einer „normalen" Kindheit in dieser Zeit wesentlich unterscheiden.
Wer konnte schon als Kind einfach mal zum Nachbarn Heinrich Lübke zum Kakao trinken gehen?
Oder wenn in „Welthölzer" die Rede davon ist, dass sein Vater ihn auf eine Fahrradtour mit Herbert Wehner mitnahm.
„Man versprach sich von meiner Teilnahme wohl eine aufheiternde und gleichzeitig disziplinierende Wirkung, die beiden würden im Beisein des Jungen nicht gleich aufeinander losgehen" (S. 107)
In „Die anderen" freute sich Matthias auf einen Kirmesbesuch, den er allein mit Mutter und Vater unternehmen wollte. So dachte er, aber alles kam anders.
Mit mehreren Mercedeslimousinen und einem Polizeiauto mit Blaulicht vorweg geht die Fahrt auf die andere Rheinseite von Bonn.
Menschen versammeln sich am Eingang des Festplatzes, Fotografen stehen bereit und begleiten die Familie von Stand zu Stand. Alles geht nach einem vorgegebenen offiziellen Ablaufplan und schon bald befinden sie sich wieder auf der Rückfahrt. Das war nicht das Vergnügen, das dem Kind vorschwebte.
Ob die Geschichten biografisch oder fiktional sind, bleibt unklar. Es sind aber die Erinnerungen eines Politikersohnes, verschmolzen mit seinen Gedanken und seinen Fantasien.
Die Sprache ist angenehm schnörkellos und immer swingt leise eine wohltuende Melancholie des Vergangenen in den Erzählungen mit.
Ihre Ursula Bittel