Schmuckband Kreuzgang

Ursula März: Tante Martl

Auf-gelesen - Literarische Fundstücke (87)

Ursula März: Tante Martl (c) Piper-Verlag
Ursula März: Tante Martl
Datum:
Do. 14. Nov. 2019
Von:
Marcel Schneider (Red.)

März, Ursula (Verfasser): Tante Martl : Roman / Ursula März. - Originalauflage. - München : Pieper, 2019. - 189 Seiten. - ISBN 978-3-492-05981-7

Die Autorin Ursula März erzählt das Leben ihrer Patentante, die an einem Juni-Sonntag im Jahr 1925 geboren wurde, als dritte Tochter eines Vaters, der nur Jungen wollte.

Auf dem Standesamt wird das Kind tatsächlich als „Martin“ eingetragen. Erst als die Mutter droht, mit den Kindern das Haus und den Mann zu verlassen, lässt er nach einer Woche den Namen in „Martina“ ändern. Sie wird fortan von allen nur „Martl“ genannt werden.

Mit ihren älteren Schwestern Bärbel und Rosa wächst sie in Zweibrücken in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Der Vater bevorzugt die beiden anderen, besonders Rosa, die er wie eine Prinzessin behandelt, die nicht im Haushalt helfen muss, der er alles durchgehen lässt, wofür Martl sogar körperliche Gewalt erdulden muss. Martl wird ein bockiges Kind, in ständiger Rivalität zu ihrer Schwester Rosa.

Diese Rivalität wird ihr Leben lang bestehen bleiben: hier die naschhafte, schöne, gefallsüchtige Rosa, von allen umschwärmt, dort die bodenständige, schroffe Martl, die jeden „Firlefanz“ ablehnt und stets ihre Unauffälligkeit betont.

Während ihre Schwestern heiraten und aus Zweibrücken wegziehen, bleibt Martl im Elternhaus. Sie wird Volksschullehrerin. Wenn ihre Hilfe in den Familien ihrer Schwestern gebraucht wird, ist sie ganz selbstverständlich zur Stelle, was von der Familie schamlos ausgenutzt wird. Zudem kümmert sie sich auch um die Pflege des jähzornigen Vaters, als der einen Schlaganfall erleidet. Ausgerechnet die ungeliebte Tochter ist die einzige, die es ihm recht machen kann.

Nach dem Tod der Eltern bleibt sie noch weitere 38 Jahre in dem Haus, bis sie wegen beginnender Demenz in ein Heim zieht.

Die Autorin, Rosas Tochter, besucht ihre alte Tante im Heim, wo sie ab und zu Erinnerungsfetzen aus Martls Leben erhält, die ihr helfen, das Leben der Tante besser zu verstehen.

Erst jetzt im hohen Alter, vielleicht durch die Demenz begünstigt, bricht das Trauma der falschen Geburtsurkunde aus Martl heraus. „Die habbe e Bub aus mir gemacht, aber isch war doch gar ke Bub.“ (S. 19) Es kommen noch andere Details ans Tageslicht, die die vielen Informationshäppchen aus Telefonaten ergänzen, die die beiden jahrelang geführt haben.

Martl ist nicht nur die ungeliebte dritte Tochter, die stets im Schatten ihrer Schwestern und unter der Fuchtel des Vaters stand. Sie hat trotzdem ein relativ eigenständiges Leben geführt, sie wurde Lehrerin, verdiente ihr eigenes Geld, machte den Führerschein – was in den 50ern im kleinbürgerlichen Milieu nicht eben üblich war –, kaufte sich ein Auto und machte Urlaubsreisen, die sie sogar ins Ausland führten.

Ursula März nennt ihr Buch „Roman“, so kann man vermuten, dass das Leben ihrer Patentante zwar als Vorlage diente und viele Episoden der Wahrheit entsprechen, weshalb sie erst nach dem Tod aller Beteiligten darüber geschrieben hat, aber doch einiges Fiktion ist.

„Tanten sind immer weibliche Wesen, die an einer Familie quasi dranhängen, aber keine eigene haben“. Tante Martl steht in gewisser Weise für das Schicksal vieler Frauen, die in der Nachkriegszeit im „heiratsfähigen Alter“ waren, ihre Träume begraben und ihr Leben meistern mussten.

Das Buch ist flüssig zu lesen, der Pfälzer Dialekt, den Martl durchgängig spricht, macht den Roman authentisch. Die Geschichte dieser scheinbar unscheinbaren Frau ist sehr berührend und es ist ein äußerst lesenswertes Buch, das mir sehr gut gefallen hat und ich wärmstens empfehlen kann.

Roswitha Jakubassa, Literatur AG der Bücherei am Dom Mainz


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