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ANBETUNG

Artikel von Weihbischof Dr. Udo Markus Bentz, 2010 für unsere Festschrift verfasst

Das gebeugte Knie, die leeren Hände – Urgebärden des freien Menschen?

Anbetung als Weg wachsender Freiheit

„Simpliciter intret et oret“ – Er trete einfach ein und bete, so der Hl. Benedikt in seiner Regel über das Oratorium im Kloster und das Bedürfnis des Mönches nach dem stillen, persönlichen Beten.[1] Diese Einladung könnte auch als Willkommensgruß über dem Eingang der Kapelle des Klosters der Ewigen Anbetung stehen: eine Einladung, inmitten der Hektik und Geschäftigkeit der Mainzer Innenstadt einzutreten in eine Oase des stillen und persönlichen Gebets. Trete einfach ein und bete: Anbetung ist einfach und schlicht, anspruchsvoll und schwer zugleich. Aus einer zeitlich begrenzten geistlichen Übung formt sich eine Grundhaltung. Der anbetende Mensch geht einen Weg wachsender innerer Freiheit.

„Beten und glauben. Danke!“[2] Das sind die letzten Worte von Alfred Delp vor seiner Hinrichtung, die er aufschreibt. Souverän und aufrecht geht er in den gewaltsamen Tod. Was hat ein Mensch erfahren, der gequält und seiner Würde beraubt im Angesicht der drohenden Hinrichtung ein solches Wort sprechen kann? Alfred Delp gibt die Antwort: „Der Mensch muss sich selbst hinter sich gelassen haben, wenn er eine Ahnung von sich selbst bekommen will. ... Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“[3]

Das gebeugte Knie als Bild für einen souveränen, freien Menschen? Das erscheint zunächst paradox. Dagegen sträubt sich das Lebensgefühl. Zur Freiheit und Souveränität des Menschen gehört seine Fähigkeit zum aufrechten Gang. Das gebeugte Knie hingegen scheint geradezu ein Zeichen von Unmündigkeit – alles andere also als eine Urgebärde des freien Menschen. Der moderne Mensch kniet nicht gerne. Antiquiert erscheint ihm das – auch in der Liturgie. Und doch: Wovor beugt der nach Unabhängigkeit strebende und mündig sich gebärdende Mensch auch heute noch ständig neu sein Knie? Hier braucht es den kritischen Blick und den Geist der Unterscheidung.

Knien ist ein Zeichen der Anerkennung. Ehrfurcht sowie die Anerkennung der Größe des anderen – dafür steht der Kniefall. Im Alten Testament galt das Knie als Symbol kämpferischer Kraft. Wenn der Mensch sein Knie beugt, beugt er sich, seine Kraft und sein Können vor Gott. Der kniende Mensch anerkennt: Alles, was ich bin, bin ich nicht aus mir selbst. Als Geschöpf empfange ich alles aus der Hand meines Schöpfers. Wenn der Mensch sein Knie vor Gott beugt, setzt er Maßstäbe. Der kniende Mensch bezeugt: Ich nehme nicht mich selbst zum Maßstab. Ein anderer Maßstab entscheidet im Letzten über mich. So kann demzufolge niemand vor einem Menschen das Knie beugen sondern einzig und allein vor Gott. So verstanden hat das Knien für den Christen auch nichts Entwürdigendes. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn der Mensch allein sich selbst zum Maß nimmt, wird er eng und klein. Er kreist ängstlich um seine eigene Subjektivität. Er kämpft mühsam um eine Würde, die er sich selbst zu geben und aufrecht zu halten versucht. Ihm gelingt es nur schwer, Freiheit und Größe von einem anderen – von dem Anderen – anzunehmen. Die Anbetung verhilft dem Menschen zu genau dieser Erfahrung: Wo der Mensch es fertig bringt, sich vor Gott zu neigen und zu beugen, wird er erleben: Gerade dieses Weggehen von sich lässt den Menschen groß und weit werden. Er muss nicht mehr eng und ängstlich darauf schauen und fragen: Woher kommt mir Würde? Woher Ansehen? Der kniende, anbetende Mensch durchbricht das Gesetz, dass man anscheinend nur groß sein kann, wenn andere kleingehalten werden. Die Geschichte zeigt es in immer neuen erschreckenden Erfahrungen: Der Mensch, der sich zum Maß nimmt, wird maßlos. Der anbetende Mensch aber lässt Gott wirklich Gott sein und erlebt, dass er erst darin ganz Mensch werden kann: In deiner Größe – Gott – bin ich groß! Von daher bekommt alles sein Maß und seine Ordnung. Von daher erwächst dem anbetenden Menschen eine Freiheit, die nicht auf Kosten anderer geht, sondern die zugleich die Ehrfurcht vor dem anderen mit einschließt.

Alfred Delp spricht nicht nur vom gebeugten Knie, sondern auch von der hingehaltenen leeren Hand als Urgebärde des freien Menschen. Und auch das erscheint zunächst paradox. Ähnlich wie die Gebärde des gebeugten Knies widerspricht auch die hingehaltene leere Hand der erstrebten Freiheit und Mündigkeit: Lieber selbst die Dinge in die Hand nehmen, als angewiesen sein auf das, was einem in die leere Hand gelegt wird. Die hingehaltene leere Hand ist eine Gebärde der Bedürftigkeit. Wer die leere Hand ausstreckt, der erhofft sich vom anderen etwas, was er sich selbst nicht geben. Wer dem anderen die leere Hand hinhält, vertraut darauf, dass der andere größere Möglichkeiten hat als man selbst. In dieser inneren Haltung geschieht Anbetung: Der anbetende Mensch weiß, dass er das Entscheidende seines Lebens nicht selbst in der Hand hat. Er kann es auch nicht selbst „machen“ oder gar „erzwingen“. Das Entscheidende, das wirklich Lebensnotwendige ist Geschenk: Zuneigung und Liebe, Achtung und Anerkennung, Freundschaft und Vertrauen, Vergebung und Versöhnung und vieles andere. Das Leben selbst ist reines Geschenk – Gnade ganz und gar. Die Gebärde der ausgestreckten leeren Hand zeigt die Bereitschaft und Fähigkeit, lassen zu können, um empfangen zu können. Und ähnlich der Gebärde des gebeugten Knies verweist die ausgestreckte leere Hand weg von einem selbst hin zum anderen. Der Blick geht weg von der eigenen Leistung hin zu dem, der die Möglichkeit hat, Erfüllung zu schenken über alles menschenmögliche Maß hinaus.

Anbetung heißt: lassen können. Solches „lassen können“ ist der Weg zur Gelassenheit, die keineswegs Gleichgültigkeit oder Unberührbarkeit gegenüber den Bedrängnissen des Lebens bedeutet, sondern: Gelassenheit hat der, der lassen kann, weil er in seiner eigenen inneren Mitte frei geworden ist von falschen Bindungen. Alfred Delp formuliert dies in seiner Epiphanie-Meditation. Er ist der Überzeugung, „dass die Menschen immer dann verloren sind und dem Gesetz ihrer Umwelt, ihrer Verhältnisse, ihrer Vergewaltigungen verfallen, wenn sie nicht einer großen inneren Weite und Freiheit fähig sind. Wer nicht in einer Atmosphäre der Freiheit zuhause ist, die unantastbar und unberührbar bleibt allen äußeren Mächten und Zuständen zum Trotz, der ist verloren. Der ist aber auch kein wirklicher Mensch, sondern Objekt, Nummer, Statist, Karteikarte.“[4] Um gelassen sein zu können, braucht es einen festen inneren Halt, der weit über das, wozu Menschen fähig sind, hinausgreift. Erst aus einer solchen Bindung erwächst die dem Menschen würdige Freiheit: Anbetung eröffnet dem Menschen die Chance, in die Tiefe vorzudringen, zur eigenen Mitte zu finden und sich in dieser Tiefe zu verwurzeln und festzumachen. Als Geschöpf sich seinem Schöpfer, dem je größeren Gott hinzugeben, das ermöglicht eine Gelassenheit und Freiheit gegenüber dem kleinlichen Auf und Ab des Alltags, gegenüber den Zwängen und Bedrängnissen, die vom Menschen Besitz ergreifen. Der Mensch muss zu seiner Mitte gefunden haben, sonst wird er zum Spielball vielfältiger Zwänge. Gerade für den zur Verantwortung gerufenen und verpflichteten Menschen ist es notwendig, in diese eigene innere Mitte vorzudringen. Es gibt so etwas, wie das „sich frei Beten“ durch die Bedrängnisse hindurch zu Gott.

Anbetung bedeutet: absehen von sich – aufschauen zum anderen – zu dem ANDEREN, wie er sich in Jesus Christus offenbart. Darin geschieht Anbetung „in Geist und Wahrheit“ (Joh 4, 23). In der Anbetung lässt sich der Mensch durch das paradoxe Lebensgesetz Jesu prägen, das er in immer neuen Anläufen in Wort und Tat verkündet und das gipfelt in seiner Selbsthingabe am Kreuz: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.“ (Mk 8, 35)

Wer diesem Lebensgesetz Jesu vertraut, dem wird das gebeugte Knie und die hingehaltene leere Hand zur Urgebärde des freien Menschen. Frei wird der Mensch, wenn er seine eigenen Grenzen überschreitet und sich rufen lässt vor Gott. Darin liegt die eigentliche Kraft des Anbetung, die Alfred Delp so aufrecht und frei und souverän seinen Weg gehen ließ und die er in ein sehr treffliches Bild gefasst hat: „Man muss die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“[5]

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[1] Kapitel 52, Vers 4.

[2] Letzter Kassiber Delps aus der Haftanstalt Tegel vom 30.01.1945 bevor er nach Plötzensee verlegt wurde. Alfred Delp: Gesammelte Schriften. Aus dem Gefängnis (Bd. IV), hrsg. v. Roman Bleistein, Frankfurt: Knecht-Verlag 1984, 147.

[3] Alfred Delp: Meditation zu Epiphanie 1945, in: Ders., Mit gefesselten Händen. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg: Verlag Josef Knecht 2007, 112-122, 116.

[4] Ebd. 114.

[5] Ebd. 116.