Schmuckband Kreuzgang

Anna Kim: Geschichte eines Kindes

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Anna Kim: Geschichte eines Kindes (c) Suhrkamp-Verlag
Anna Kim: Geschichte eines Kindes
Datum:
Fr. 16. Dez. 2022
Von:
Marcel Schneider (Red.)

Kim, Anna (Verfasser): Geschichte eines Kindes : Roman / Anna Kim. –  1. Auflage. – Berlin : Suhrkamp, 2022. – 220 Seiten. – 978-3-518-43056-9 Festeinband : circa EUR 23.00 (DE)

Was macht eigentlich unsere Identität aus? Sprache, Hautfarbe, Geburtsort? 

Wer von uns kann sich ohne Vorbehalt davon freisprechen, Menschen nach ihrem Aussehen in Schubladen zu stecken? 

Wie geht es Menschen, die nicht im Kreis derer leben, zu denen sie vermeintlich aufgrund ihres Äußeren gehören? 

Und wer macht sie zu „Fremden“? Sie selbst – oder die anderen?

Mit diesen Fragen konfrontiert uns der Roman von Anna Kim: „Die Geschichte eines Kindes“. Die Autorin, als Kind einer koreanischen Familie nach Österreich eingewandert, verarbeitet darin die reale Geschichte eines anderen Kindes, die des Jungen Daniel im Amerika der 50er Jahre.

Fran, eine junge österreichische Schriftstellerin, verbringt als „Writer in Residenz“ ein Semester an einem College in Green Bay, Wisconsin. Sie mietet sich ein Zimmer im Haus von Joan Truttman, die beiden unterschiedlichen Frauen verstehen sich und Fran findet genügend Ruhe zum Schreiben. Als Joan sie eines Tages auf ihre vermeintliche Einsamkeit anspricht, bezieht Fran dies auf ihre Zurückgezogenheit am Schreibtisch. Aber Joan meint etwas anderes: „… es müsse schwierig sein, weit und breit die einzige Asiatin zu sein.“ Fran, Kind eines österreichischen Vaters und einer koreanischen Mutter, kann nur verblüfft erwidern, sie „sei in Wien geboren,“ und fühle sich „in etwa so asiatisch wie [Joan].“ (S. 13)

Erst allmählich begreift sie, warum Joan sich so für ihre ethnische Zugehörigkeit interessiert. Joans Ehemann Daniel lebt wegen eines Schlaganfalls vorübergehend in einer Pflegeeinrichtung. Jetzt erfährt Fran, dass „Danny in der gleichen Situation [sei] wie [sie]. Er sei der einzige Afroamerikaner in Green Bay, … .“ (S.14)

Und so wird Fran allmählich in die Geschichte dieses Daniel hineingezogen: Geboren 1953 als Kind einer zu jungen weißen Mutter, wurde er umgehend zur Adoption frei gegeben. 

Im Roman sind die Einträge der dazu angelegten Fallakte direkt zu lesen, und wir werden Zeugen des aus heutiger Sicht unglaublichen Geschehens. 

Daniel weist wenige Tage nach seiner Geburt Anzeichen „negroiden“ Aussehens auf. Die mit dem Fall betraute Sozialarbeiterin Marlene Winckler ist überzeugt, der unbekannte Vater sei, wie es in der damals noch unverblümten Ausdrucksweise heißt, wohl ein „Neger“.

Da sie das Kind ohne genaue Herkunftsklärung für nicht vermittelbar hält, setzt sie sich in den Kopf, den Vater zu finden, die Mutter schweigt beharrlich. Jahrelang wird eine Adoption deswegen verhindert. Als dieser Wahn endlich von den Vorgesetzen gestoppt wird, geht Marlene Winckler zurück in ihr Heimatland Österreich. Daniel wird in eine fürsorgliche weiße Familie vermittelt, aber er bleibt das einzige farbige Kind in seinem Umfeld.

Bevor Fran nach Haus zurückkehrt, bittet Joan sie um den Gefallen, die Sozialarbeiterin Winckler aufzuspüren, um herauszufinden, ob der Vater Dannys doch noch identifiziert wurde. Als Fran sich endlich auf die Suche nach Marlene Winckler macht, trifft sie nur noch auf deren Tochter. In den Gesprächen mit ihr erfährt sie, dass Marlenes Ausbildung noch in der NS-Rassenlehre wurzelte und aus welcher Geisteshaltung heraus der kleine Danny vermessen und berechnet wurde. Das Böse setzt sich in vielerlei Weise fort.

Für Fran wird die Geschichte zu einer Reise zu sich selbst. War es richtig, ihre Identität allein auf die väterliche Seite zu reduzieren? Ist ihr das mütterliche Erbe nicht buchstäblich ins Gesicht geschrieben, warum versuchte sie ihre ganze Kindheit lang, es zu verleugnen? 

Und umgekehrt: Joan lässt die Frage nicht los, ob ihr Mann glücklicher wäre, wenn er statt in einer weißen in einer farbigen Familie aufgewachsen wäre, also bei „seinesgleichen“ (S. 104).

Frans Vater wirft ihr vor „es sei kindisch“ (S. 190) einen Teil ihrer selbst abzulehnen und fragt: „Kind, […] Was siehst Du eigentlich, wenn Du in den Spiegel schaust?“ (S. 191)

Was also macht Identität letztlich aus? Das Buch hat darauf auch keine Antwort. Fasziniert hat mich aber die Perspektive, mit der es diese Fragen beleuchtet.

 

Katharina Dörnemann, Literatur AG der Bücherei am Dom

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