Schmuckband Kreuzgang

Emma Flint: In der Hitze eines Sommers

Auf-gelesen - Literarische Fundstücke (94)

Emma Flint - In der Hitze eines Sommers (c) PIPER
Emma Flint - In der Hitze eines Sommers
Datum:
Mo. 16. Nov. 2020
Von:
Marcel Schneider (Red.)

Flint, Emma (Verfasser): In der Hitze eines Sommers : Roman / Emma Flint ; aus dem Englischen von Susanne Keller. - München : Piper Verlag GmbH, 2020. - 416 Seiten. - ISBN 978-3-492-06160-5. - Broschur : EUR 16.99

New York, Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ruth Malone, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, versucht Haushalt und Erziehung einigermaßen korrekt zu bewältigen. Ihr Mann, von dem sie erst seit kurzem getrennt lebt, droht, ihr die Kinder wegzunehmen, wenn er auch nur kleinste Anzeichen von Vernachlässigung nachweisen könnte. Ihr Freiheitsdrang und ihr Job in einer Bar sprechen sowieso schon gegen sie. Sie sticht heraus aus der Schar der Hausfrauen ihrer Nachbarschaft, sie ist einfach zu perfekt geschminkt, zu auffällig gekleidet, geht zu oft aus, hat Liebhaber, trinkt zu viel.

Als sie eines Morgens das Schlafzimmer ihrer Kinder leer vorfindet, scheint der Fall klar: sie hat nicht aufgepasst, die Kinder, drei und fünf Jahre alt, sind durchs Fenster geklettert und weggelaufen. Die Suchaktion bringt die bittere Wahrheit, die Kinder werden in einigem Abstand voneinander ermordet und regelrecht weggeworfen aufgefunden. Für Ermittler Devlin steht schnell fest, wen er als potentielle Täterin ins Visier nimmt: die Mutter. Ihr Lebenswandel ist so suspekt, dass man ihr einfach alles zutrauen kann und bestimmt waren ihr die Kinder bei ihren Eskapaden einfach nur im Weg. 

Aus dieser Ausgangskonstellation entfaltet sich die Geschichte einer Ermittlung, deren Ergebnis zwar von vornherein festzustehen scheint, die sich aber hinzieht, weil sich keime wirklich gerichtsfesten Beweise finden lassen. Dagegen stehen die Recherchen eines Journalisten, der von der jungen Frau immer stärker in den Bann gezogen wird.

So spannend die Autorin in ihrem Debütroman die Handlung auch entwickelt, es wäre zu kurz gegriffen, ihm einfach den Genrestempel „Krimi“ aufzudrücken. Im Vordergrund steht die Analyse einer Gesellschaft, in der feste Rollenbilder die moralischen Urteile vorgeben. Wer wie die schöne Ruth, so deutlich den erwarteten Schemata nicht entspricht, kann nur schuldig sein.

Flint gelingt es, die Frage der Täterschaft so in der Schwebe zu halten, dass im Fortgang der Geschichte alles möglich scheint. Hat die Mutter doch die Kinder auf dem Gewissen? Ist sie hilflos und überfordert oder einfach gefühllos? Die Autorin wertet nicht, ergreift nicht Partei, sondern entwickelt den schillernden Charakter der Protagonistin aus deren Handlungen, sowie aus der Sicht derer, die aus unterschiedlichen Perspektiven aufzuklären versuchen, was geschehen ist. Oder versuchen sie eher, das zu bestätigen, was sie für die Wahrheit halten? Deutlich wird jedenfalls, dass eine Frau wie Ruth keine Chance hat, in ihren Bedürfnissen und Ängsten wahrgenommen zu werden. Sie bleibt Objekt der Vorurteile und Begierden.

Die englische Autorin legte ihrer Romanhandlung einen echten Kriminalfall zugrunde und sie klärt zum Schluss auch den wahren Tathergang auf, doch in der fiktiven Ausgestaltung wird aus diesem einzelnen realen Vorfall ein exemplarisches Geschehen. Oder können wir sechzig Jahre später wirklich behaupten, dass wir frei sind von Vorurteilen und -verurteilungen? Ich glaube nicht. 

Katharina Dörnemann

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