Nora Bossong: Reichskanzlerplatz

Am Reichskanzlerplatz 3 lebte nach ihrer Scheidung 1929 die Millionärsgattin Magda Quant, bevor sie im Dezember 1931 Joseph Goebbels heiratete.

Hans Kesselbach, unser Erzähler, lernt die Familie Quandt kennen, als er seinen Mitschüler Helmut zu Hause besucht. Hans ist zwölf Jahre alt und total beeindruckt von der riesigen Villa in Babelsberg. Aber mehr noch von der eleganten Dame des Hauses. Magda ist erst 19 Jahre alt und bewegt sich ganz selbstverständlich in der Welt der Erwachsenen. Einige Jahre später öffnet sich diese Welt auch für die beiden Heranwachsenden. Magda nimmt sie mit auf ihre Ausflüge, ins Kino, zu Konzerten, ins Theater. Helmut wirkt dabei sehr vertraut mit seiner Stiefmutter und Hans fühlt sich oft wie der Anstandsdritte. Er ist eifersüchtig, weil er in Helmut verliebt ist. Aber seine Gefühle bleiben unerwidert.

Als Helmut mit 19 Jahren stirbt, bringt die Trauer Magda und Hans enger zusammen. Die Ehe der Quants ist schon lange zerrüttet. Magda, inzwischen Mutter eines Sohnes, sucht einen Weg auszubrechen. Hans hat seinen Militärdienst beendet und studiert Jura. Seine Nächte verbringt er in verbotenen Bereichen des Berliner Nachtlebens. Beide sehen Vorteile in einer Verbindung. Er kann seine Neigungen ausleben und durch ihren Schutz vor der Öffentlichkeit verbergen. Sie braucht jemanden, der für sie da ist und sie in Gesellschaft begleitet. Sie werden ein Paar. Nach ihrer Scheidung ist er oft zu Gast in der Wohnung am Reichskanzlerplatz, privat und auch bei den Empfängen, wo sie die Großen aus Wirtschaft und Politik zusammenbringt. Auch Hitler geht hier ein und aus. Hans missbilligt Magdas neuen Umgang. Er kann nicht verstehen, dass sie sich so leidenschaftlich engagiert, kann sie aber auch nicht davon abhalten.

Als Magda Josef Goebbels kennenlernt und ihn schließlich heiratet, endet ihr Arrangement. Hans wird Jurist im Auswärtigen Amt. In den Jahren des Krieges wird er in Italien und der Schweiz für Deutschland arbeiten. Der Kontakt zu Magda reißt nie ganz ab. Doch mehr und mehr wird sie für ihn zu einem Bild in den Wochenschauen: Die Vorzeigeehefrau und Mutter für die Propaganda der Nazis.

Nora Bossong erzählt ihren Roman entlang der historischen Fakten. Sie kann und darf die deutsche Geschichte nicht neu erfinden. Trotzdem ist es ihr gelungen, eine neue Geschichte über Magda Goebbels, Berlin, Deutschland und seine Menschen zu erzählen. Sie wirft einen Blick zurück auf die Zeiten vor und während des zweiten Weltkrieges. Dabei verwebt sie geschickt das Weltgeschehen mit dem Leben ihrer Figuren. Während Hans ins Kino geht, marschieren die ersten SA-Trupps. Sein Vater stirbt, als Hitler in Österreich einmarschiert. Kurz vor Magdas 37. Geburtstag brennen die Synagogen.

So kann man Geschichte auch erzählen, sehr spannend, sehr lebendig und sehr unterhaltsam. In ausgewählt schöner Sprache ist das ein echtes Leseerlebnis. Auf nur 295 Seiten werden 25 Jahre unserer Vergangenheit komprimiert und eindringlich geschildert. Der Autorin ist damit ein umfassendes und eindrucksvolles Zeitbild gelungen.

Wenn man den Titel liest, Reichskanzlerplatz , weiß man sofort in welcher Zeit der Roman spielt. Und sie glauben sicher, dass Sie schon alles über diese Zeit gehört, gesehen oder gelesen haben. Oder? - Lassen Sie sich von Nora Bussong überraschen!

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Theresia Pistorius, Bücherei am Dom Mainz