Schmuckband Kreuzgang

Olga Tokarczuk: Anna In

Auf-gelesen - Literarische Fundstücke (115)

Olga Tokarczuk: Anna In (c) Kampa-Verlag
Olga Tokarczuk: Anna In
Datum:
Fr. 16. Dez. 2022
Von:
Marcel Schneider (Red.)

Tokarczuk, Olga (Verfasser): Anna In : eine Reise zu den Katakomben der Welt : Roman / Olga Tokarczuk. –  1. Auflage. – Zürich : Kampa, 2022. – 192 Seiten. – 978-3-311-10074-4 Festeinband : circa EUR 22.00 (DE)

Anna In – das ist Inanna, die sumerische Herrin des Himmels. Olga Tokarczuk erinnert sich aus ihrer Lektüre als Jugendliche an „eine mutige, aufbegehrende Göttin“. Sie ist Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, des Mondes und des Krieges. Die Erzählung von ihrem Abstieg in die Unterwelt ist der wohl älteste bekannte Mythos der Menschheit. Verwandte Erzählungen kennen wir von Istar, von Orpheus, Odysseus, Demeter, Persephone und anderen, schließlich auch von Jesus.

Olga Tokarczuk erzählt ganz nahe an diesem uralten Mythos. Eine Hinführung dazu hat sie ihrem Roman vorangestellt. Auf der anderen Seite treten wir von Anfang an in futuristisch anmutende Szenerien ein: Ober- und überirdisch eine Megalopolis mit modernster Architektur, hängenden Gärten, Aufzügen, Laufbändern allüberall, fast wie im Computerspiel; dazu seltsam mutierte Wesen, die Menschen wie Göttern Hilfsdienste leisten.

Die Erzählung beginnt damit, dass Anna In den Ruf ihrer Zwillingsschwester, der Herrin der Unterwelt, hört. Und sie entschließt sich: „Ich mache die Welt wieder heil, ich öffne die Katakomben“ – der Beginn einer abenteuerlichen Heldinnenreise durch eine phantastische Unterwelt mit riskantem Ausgang. Anna In gelangt zu ihrer Schwester – das bedeutet ihren Tod. Ihre menschliche Begleiterin sucht verzweifelnd Hilfe bei den oberirdischen Göttern, luxuriösen, bürokratischen Vätern, korrumpiert und neoliberal. Erst die göttliche Mutter kann sie bewegen, zu helfen, und hier breche ich die Wiedergabe der Erzählung einmal ab.

Ich habe eine Erzählung gelesen über die Welt, auch unsere moderne, über die Menschen und die Menschlichkeit; den Versuch, eine Daseinsordnung zu entdecken – um die Welt „wieder zu einem in sich verbundenen Ganzen zu machen“, so beschreibt es die Autorin selbst.

Anthropologie ist von leichter Hand eingestreut, woher das Mitgefühl kommt etwa, das die Götter nicht kennen, oder woher die vielen schöpferischen, liebevollen Fähigkeiten kommen, die wir Menschen haben. Anna Ins Schwägerin Gestianna, die sich als Ersatz für die Unterweltherrscherin anbietet, sagt „Ich will in Erfahrung bringen, wie es dort unten ist. Es kann nicht sein, dass wir einfach nicht mehr sind“ und so ist die Erzählung auch eine vom Tod und davon, die Angst vor dem Tod zu überwinden, auch wenn der Tod bleibt.

Tokarczuks Sprache ist reich an Bildern, knapp, witzig, aber nie komödiantisch. Und Lisa Palmes ist 2022 die höchst gelobte zweite Übersetzerin – auf Empfehlung von Esther Kinsky, die das Werk 2007 erstmals übersetzt hatte.

Olga Tokarczuk, 1962 in Polen geboren, erhielt 2019 rückwirkend den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2018 – und diese Auszeichnung ist bei uns leider untergegangen unter den Diskussionen um die Preiswürdigkeit Peter Handkes. Es lohnt sich, Olga Tokarczuk, die wunderbare Erzählerin, zu entdecken!

Das letzte Wort lasse ich Anna Ins menschlicher Begleiterin Nina Šubur: „Jemand wie Anna In sieht alles lebendig, selbst den kleinsten Gegenstand. … Wir können das nicht. Uns wird eine solche Sicht nur in besonderen Momenten zuteil. Aus ebendiesem Grund sind wir sterblich.“

 

Johannes Kohl

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