Rothmann, Ralf (Verfasser): Die Nacht unterm Schnee : Roman / Ralf Rothmann. – 1. Auflage. – Berlin : Suhrkamp, 2022. – 304 Seiten. – ISBN 9783518430859 Festeinband : circa EUR 24.00 (DE)
Wie die beiden Vorgänger „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ erzählt auch "Die Nacht unterm Schnee" von Krieg und Frieden.
Zum Inhalt:
Im Winter 1944/45 fliehen die Menschen aus der zerstörten Region um Danzig Richtung Westen. Einer der vielen Lastwagenkonvois gerät unter Beschuss, es gibt Tote und Verletzte und nur ein namenloses Mädchen mit schwarzen Zöpfen kann, vorerst, entkommen. Von den Tagen ihrer Flucht durch Schnee und Kälte, von allen Schrecken und Verletzungen wird in kurzen Einblendungen berichtet und von der Nacht unterm Schnee, in der ein russischer Deserteur ihr das Leben rettet.
Wenige Jahre später treffen wir auf Luisa, die uns von ihrer Freundin Elisabeth erzählt. Luisa ist noch Schülerin, ihre Eltern bewirtschaften das Marinekasino in Kiel, Elisabeth kellnert dort und hat schon einen festen Freund. Luisa ist fasziniert von diesem Paar, das eigentlich so gar nicht zueinander passt. Elisabeth ist nicht wirklich eine Schönheit, aber frech und schlagfertig, immer gut gelaunt und lebenslustig. Walter ist ruhig und gutmütig, ein schöner Mann, groß und stattlich, grüne Augen, sanfte Stimme, er gefällt den Frauen, auch Luisa. Elisabeth zeigt sich stolz mit ihrem Verlobten, sie ist glücklich jemanden zu haben zu dem sie gehört, trotzdem stürzt sie sich in jedes kleine Abenteuer und Walter, der nur ab und zu nach Kiel kommen kann, sieht die neuen Kleider und die Perlen an ihren Ohren und scheint nichts zu ahnen.
Als Elisabeth schwanger wird, holt Walter sie zu sich, auf den Gutshof, wo er als Melker arbeitet. Wenig Lohn gibt es für die harte Arbeit und auf Komfort muss man hier ganz verzichten. Doch für Walter ist dieses bescheidene Leben das Paradies. Elisabeth ist auf dem Land aufgewachsen, wollte aber nie wieder da hin. Es fällt ihr schwer, sich einzufügen, zwischen Kuhweiden und Misthaufen. Zu einsam ist es, zu dreckig und die Arbeit stupide, schreibt sie ihrer Freundin. „Ihr fehlt mir alle sehr, doch am meisten fehle ich mir selber“.
Vor der Geburt des kleinen Sohnes wird geheiratet und danach sieht man sie zu dritt auf die Weiden gehen, Elisabeth und Walter im Morgenrot, zwischen sich das Körbchen mit dem kleinen Wolf. Es vergehen zwei Jahre in diesem trügerischen Idyll. Es kommt das zweite Kind und es gibt neue Probleme. Luisa wird gebeten, auszuhelfen und tut das gerne. Sie wohnt für ein paar Wochen auf dem Hof. Ein unglücklicher Vorfall bei dem sie und die Perlenohrringe eine entscheidende Rolle spielen, bereitet dem Landleben ein jähes Ende. Die Familie übersiedelt ins Ruhrgebiet. Walter hat Arbeit im Bergbau gefunden. Vertrieben aus seinem Paradies, begräbt er seine Träume unter Tage. Elisabeth freut sich über die Veränderungen, Neubauwohnung, neue Freunde, die Stadt vor der Haustür. Sie kümmert sich um Haushalt und Kinder, mehr schlecht als recht, gibt zu viel Geld aus und gönnt sich mal wieder wilde Tanzabende und lockere Affären.“ Das ist das Paradies, hier geh ich nie wieder weg“ steht in einem ihrer Briefe.
Luisa, macht derweil Abitur und studiert, sie kann reisen, sie verliebt sich, ihr bieten sich ganz andere Möglichkeiten und sie macht ganz andere Erfahrungen, mit dem Leben, mit der Liebe. Ihre Verbindung zu Walter und Elisabeth wird in all der Zeit nicht abreißen, sie bleibt den Beiden ein Leben lang verbunden, auch wenn Besuche und Briefe seltener werden. Mit großem Bedauern, sieht sie die Schwierigkeiten dieser lieblosen Ehe und die Tristesse dieses eingeengten Lebens. Elisabeths Verhalten erscheint ihr gefühllos, ja grausam. Luisa sorgt sich um Walter und die Kinder, helfen kann sie nicht. Nach Walters Tod treffen sich die Frauen ein letztes Mal. Gibt es noch Gemeinsamkeiten oder erinnert nur noch Luisas Geschenk an die guten alten Zeiten? In einer roten Schatulle glänzen die geheimnisvollen Perlenohrringe.
Die beiden Handlungsebenen sind nicht verknüpft, die Kapitel von Flucht und Nachkriegszeit wechseln sich ab und es ist schnell klar, das in beiden von Elisabeth erzählt wird.
Krieg und Flucht ein sehr aktuelles Thema in unseren Tagen, in allen Medien, in aller Munde, in allen Köpfen. Da braucht es schon einen genialen Erzähler wie Ralf Rothmann um darüber einen so einfühlsamen Roman zu schreiben. Er spannt einen weiten Bogen über 40/50 Jahre und es gelingt ihm, die vielen Einzelschicksale und eine ganze Epoche auf nur 300 Seiten lebendig werden zu lassen. Er schafft einzigartige Bilder und Stimmungen, in jedem Kapitel finden sich Sätze die man vorlesen und Formulierungen, die man zitieren möchte, hier stimmt einfach alles: Sprache, Dramaturgie, Charaktere und Plot. Für mich ein sehr besonderes Leseerlebnis, ein sehr empfehlenswertes Buch.
Theresia Pistorius, Literatur-AG der Bücherei am Dom, Mainz