Schmuckband Kreuzgang

Thilo Krause: Elbwärts

Auf-gelesen - Literarische Fundstücke (98)

Thilo Krause - Elbwärts (c) HANSER
Thilo Krause - Elbwärts
Datum:
Mo. 16. Nov. 2020
Von:
Marcel Schneider (Red.)

Krause, Thilo (Verfasser): Elbwärts : Roman / Thilo Krause. - 1. Auflage. - München : Carl Hanser Verlag, 2020. - 208 Seiten. - ISBN 978-3-446-26755-8. - Festeinband : EUR 22.00

Wie begegnet man seiner fremd gewordenen Herkunft? – Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. 2018 erschien sein Gedichtband „Was wir reden, wenn es gewittert“, für den er den Peter Huchel-Preis erhielt. Nun erscheint sein erster Roman Elbwärts, der schon vor der Veröffentlichung mit dem Robert Walser Preis 2020 ausgezeichnet wurde.

Der Ich-Erzähler, der keinen Namen hat, kehrt in seine Heimat, das Elbsandsteingebirge zurück. Nicht direkt, sondern in ein Nachbardorf. Er richtet sich dort ein, mit Frau Christina und der Kleinen. Christine arbeitet in „der Stadt die keine ist“ in einer Physiotherapiepraxis. Er bringt die Kleine in den Kindergarten, dann streift er durch das Gebirge, kocht der Kleinen ein Mittagessen, bringt sie wieder in den Kindergarten und die Nachmittage verbringt er mit Jan, dem tschechischen Touristenbusfahrer, in „der Stadt die keine ist“.

Die berühmten Felsformationen, die auf den Gemälden von Caspar David Friedrich zu sehen und nun auf dem Cover des Buches gedruckt sind, bieten viel Raum für naturpoetische Erkundungen und ist immer Gegenwärtig, die Felsen, Plateaus, Riffe werden weich und ausgleichend beschrieben. Es sind die Orte, an denen der Protagonist Ruhe und die Erinnerungen findet. An seine Kindheit und das klettern mit seinem Schulfreund Vito. Sie malten sich das Klettern in allen Facetten aus, träumten sich auf die Plateaus und planten das große Klettern. Beim Versuch einen Felsen zu erklettern geschieht der Unfall, Vito stürzt ab, verliert seinen Unterschenkel, und der Erzähler, der als Anstifter gilt, wird geächtet. Nun lässt es sich nicht mehr gut leben, in der Heimat und der Ich-Erzähler und seine Elten verlassen die Gegend, wollen alles hinter sich lassen …

Erst langsam enthüllt sich, was ihn an die eigentlich längst überlebte Vergangenheit fesselt. Zentral ist dabei die enge Jugendfreundschaft mit Vito, die mit bleibenden Schuldgefühlen verknüpft ist. Der Kontakt der Freunde ist einige Zeit nach dem Unfall endgültig abgebrochen. Nun folgt die Wiederbegegnung mit Vito, die mit knappen Dialogen und der dichten Beschreibung der Räume psychologisch äußerst präzise ge-schildert wird.

Doch über 20 Jahre später ist vieles passiert, die Mauer ist gefallen, die ehemaligen Dorfbewohner sind feindselig, dulden das Andere und Fremde nicht, Rechtsextremismus macht sich breit. Die Dorfbewohner, zu denen der Protagonist keinen Kontakt findet und die ihn immer beäugen, werden auf beklemmende Weise hinter ihren Vorhängen erkannt. Das Dorf ist keine Heimat mehr, war es vielleicht nie gewesen, denn selbst die Erinnerungen werden fremd und fern. Hinzu kommt die überschwemmende Elbe, was man dann doch wohl auch symbolisch lesen kann. Es bleiben dem Rückkehrer Alkohol und Illusionen, also keine Rettung. Aber das ist nicht das letzte Wort, der Erzähler schafft es, ohne Hass und Zorn von verlorenen Kindheitslandschaften zu erzählen.

Was allen in die Kindheit scheint, aber worin noch niemand war, so beschreibt Ernst Bloch die Heimat. Über die Suche nach diesem Ort, der nicht mehr zur Heimat werden kann, wenn man ihn einmal verloren hat, erzählt Thilo Krause mit einer ungewohnten Heftigkeit und weitaus politischer, als es zunächst scheint. In einzelnen grellen Szenen, wie einer FDJ-Versammlung in der sozialistischen Schule, wird deutlich, dass es eine Kontinuität von der DDR zu den Nazi-Umtrieben der Gegenwart gibt. Die Nazicamps in der Kiefern- und Felslandschaft sind ein Bild dafür, dass der Protagonist sich seine Heimat nicht wieder zu eigen machen kann: „Mir ist, als hätten die Nazis sich direkt in den Vorgarten meiner Kindheit erleichtert.“

Auch in den knappen Szenen mit seiner Frau, von der er sich durch die fordernde Konfrontation mit der heimischen Sehnsuchtslandschaft immer mehr entfremdet, und der „Kleinen“ zeigen, dass dieser Autor die Techniken der Aussparung und Andeutung souverän beherrscht. Aber das ist nur die Basis dieses Romans. Seine Sprache scheint sich langsam davon abzuheben. Die einzelnen Momentaufnahmen und Handlungsfetzen sind wie Bilder, die vieldeutig sind, stehenbleiben und das nächste auslösen.

Dass dieser Autor als Lyriker begonnen hat, merkt man seiner Prosa an. Der chronologische Zeitablauf ist außer Kraft gesetzt, es gibt Vor- und Rückblenden, die Erinnerungen an die Kindheit in der DDR laufen mit den Gegenwartsereignissen parallel. Eine besondere Färbung entsteht daraus, dass die wichtigsten Vertrauenspersonen beider Zeitschichten zwei Tschechen von jenseits der nahen Grenze sind: In der Schule ist es der Hausmeister Jiři, und in der haltlosen Gegenwart findet der Ich-Erzähler im Busfahrer Jan einen Freund. Dieser bildet einen extremen Gegensatz zu den feindseligen Dorfbewohnern, der „Batikfrau“ etwa oder dem Mann mit der Schiebermütze.

Ein bemerkenswertes Buch, voller poetischer Naturbeschreibungen, mit außergewöhnlicher, pointiert, atmosphärisch dichter Sprache.

Andrea Diehl

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