Schmuckband Kreuzgang

Harmonie

Von Telemann bis Hindemith

Glücklich nach ihrer Meisterleistung: Andrea Oehme und Eva-Maria Anton (c) G. Kollmer
Datum:
Mi. 23. Feb. 2022
Von:
Gerhard Kollmer

Die Bratsche beziehungsweise Viola steht häufig im Schatten ihrer »Schwestern« Violine und Violoncello - sowohl in der Kammer- wie in der sinfonischen Musik. Kompositionen, in denen sie angemessen zur Geltung kommt oder gar dominiert, sind rar. Zu Unrecht!
Dies demonstrierte am Sonntagnachmittag aufs Schönste die Pianistin und mehrfach ausgezeichnete Bratschistin Andrea Oehme aus Bad Neustadt an der Saale. Sie war in die ausgebuchte Bonifatiuskirche gekommen, um mit Regionalkantorin Eva-Maria Anton neun Werke für Viola und Orgel von Georg Philipp Telemann bis zu Joseph Rheinbergers innigem »Abendfrieden« zu Gehör zu bringen.

»Superstar« des Baraock

Georg Philipp Telemann, kompositorisches Allroundgenie und europaweit musizierender »Superstar« des Barock, bildete mit seinem Konzert G-Dur für Bratsche und Streicher (bearbeitet für Orgel) den Auftakt des gut einstündigen Musikereignisses in der Bonifatiuskirche. Da es zu seiner Zeit nur wenig ausgebildete Bratschisten gab, lernte er kurzerhand selbst Viola - das noch junge Instrument muss ihn offenbar sehr fasziniert haben.
Nach einer tänzerischen Polacca als kurzem Auftakt setzt die Bratsche im ersten Satz (largo) ganz melancholisch-getragen ein. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich Andrea Oehme mit dem sonoren »Gesang« ihres Instruments (der Bratschenton gleicht der menschlichen Altstimmlage) in die Herzen der fasziniert lauschenden Zuhörer spielte. Telemanns Konzert klingt mit einem ebenfalls tänzerisch-heiteren vierten Satz (presto) aus.

Orgel und Viola begegneten einander auf Augenhöhe

Der 1870 in Poitiers geborene Louis Victor Vierne zählt neben Charles Marie Widor, Olivier Messiaen u. a. zu den großen französischen Orgelkomponisten. Fast 40 Jahre lang bekleidete er das Amt des Organisten in Notre-Dame zu Paris. Die auf Telemann folgende »Légende« für Viola und Orgel des Tonsetzers, der während eines Konzerts in Notre-Dame im Juli 1937 einen tödlichen Hirnschlag erlitt, bezauberte ebenfalls durch ihren warmen, sonoren Bratschenton. Viola und Orgel begegneten einander nicht nur in dieser preziösen Miniatur ganz »auf Augenhöhe«. Mehrmals schienen beide so verschiedenen Instrumente völlig ineinander zu verschmelzen.

Casadesus und Dubois

Aus dem Konzert c-moll für Bratsche und Orchester des aus einer französischen Musikerfamilie stammenden, 1879 in Paris geborenen Henri-Gustave Casadesus erklang das Adagio »molto espressivo« - ein weiterer Glanzpunkt des Nachmittags in St. Bonifatius. Dieser »traumverlorene« langsame Satz atmet den barocken Geist von Händel und Bach.
Mit der folgenden »Marcietta« für Orgel solo von Théodore Dubois (1837 bis 1924) durfte Eva-Maria Anton ihr souveränes Können unter Beweis stellen. Im Unterschied zu Louis Vierne, der sich mit einem im Ersten Weltkrieg völlig heruntergekommenen Instrument (das er später auf eigene Kosten restaurieren ließ) begnügen musste, stand der Regionalkantorin die frisch renovierte Link-Orgel der Bonifatiuskirche zur Verfügung.

Glanzpunkt und Zugabe

Auf Richard Rudolf Kleins (er lehrte fast 40 Jahre lang an der Frankfurter Musikhochschule und am Hoch’schen Konservatorium ebd.) »Choral-Triptychon« folgte der letzte Glanzpunkt des Konzerts »Orgel meets Bratsche« - Paul Hindemiths nur neunminütige »Trauermusik« in vier Sätzen.
Die mit einer altenglischen Pavane beginnende und einem bewegenden Choral ausklingende »Trauermusik« entstand während einer Konzertreise Hindemiths in wenigen Stunden anlässlich des plötzlichen Todes von König Georg V. am 20. Januar 1936 und wurde noch am selben Abend von der BBC London gesendet.

Nach lang anhaltendem Applaus verabschiedete sich das perfekt harmonierende Duo mit dem Vortrag der Bearbeitung eines »tango nuevo« von Astor Piazzolla.

Außergewöhnlich vielseitige Musikerpersönlichkeit

Andrea Oehme, geb. 1970, erhielt ihren ersten Klavierunterricht mit 5 Jahren zunächst bei ihrer Mutter, später bei Bernd Zack sr. und Prof. Bernd Zack jr. (Gelnhausen). 1985 wechselte sie zu Wolfgang Schamschula (Peter-Cornelius Konservatorium Mainz), bevor sie 1990 ihr Studium bei Prof. Arne Torger (Hochschule für Musik Würzburg) begann. Sie schloss das Studium 1996 mit dem künstlerischen Diplom im Hauptfach Klavier ab. Daneben studierte sie Schulmusik (Gymnasium) und zeitweise auch Viola als zweites Hauptfach (Volker Müller, Mainz; Prof. Anton Weigert, Würzburg; Paul Hennevogl, Würzburg).
Andrea Oehme war Preisträgerin beim Willy-Bissing-Klavierwettbewerb, Förderpreiswettbewerb der Stadt Mainz, Armin-Knab-Wettbewerb und gewann 1989 als Duo-Partnerin den Südwestdeutschen Kammermusikwettbewerb, worauf eine Rundfunkaufnahme beim Südwestfunk folgte. 
Sie arbeitete als Klavier-Dozentin an der kirchenmusikalischen Fortbildungsstätte in Schlüchtern, als Pianistin und Korrepetitorin am E.T.A. Hoffmann – Theater in Bamberg und Korrepetitorin bei Meisterkursen für Gesang bei Prof. Ernst Huber-Contwig (Hannover), Prof. Christine Lehmann (Würzburg) und Prof. Helga Köhler-Wellner (Dresden).
Als Bratscherin war und ist sie Mitglied verschiedener Orchester, wie beispielsweise des Jugendsinfonieorchesters des Landes Hessen, des Bamberger Jugendorchesters, des Main-Kinzig-Kammerorchesters, der Jungen Philharmonie Rhön-Grabfeld, sowie als Aushilfe in der Meininger Hofkapelle. Seit 1987 tritt sie auch als Solistin und Kammermusikpartnerin auf. 
Andrea Oehme ist seit 1999 Musiklehrerin am Rhön-Gymnasium in Bad Neustadt.