Schmuckband Kreuzgang

„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ - Poetisches aus der Pestzeit

Serie: Lieder aus dem Gotteslob

(c) Gemeinde Biebesheim/Stockstadt
Datum:
Mi. 4. Nov. 2020
Von:
René Granacher

Eines der bekanntesten deutschen Kirchenlieder, Nummer 554 im Gotteslob, entstand in schweren Zeiten: als Flucht aus der harten Realität ins erträumte jenseitige Paradies, das himmlische Jerusalem. Es war eine Beigabe zum 1599 in Frankfurt erschienenen Trostbuch „FreudenSpiegel deß ewigen Lebens“.

Philipp Nicolai, der Verfasser dieses Liedes, widmete sich lange eher der Polemik als der Poesie: 1556 als Sohn eines zur lutherischen Lehre übergetretenen Pfarrers bei Arolsen geboren, studiert er Theologie in Wittenberg und verfasst zahlreiche flammende Streitschriften gegen Katholiken einerseits und Calvinisten andererseits. 1596 nimmt er ein Pfarramt im westfälischen Unna an – und im nächsten Jahr bricht dort die Pest aus.

 

Während die Seuche in der Stadt grassiert, träumt Nicolai vom „freuwdenreichen Leben im himmlischen Vatterland“, geht immer wieder die biblischen Bilder durch: von der himmlischen Stadt, vom Hochzeitsmahl, den frohlockenden Engelschören und dem Bräutigam des Hoheliedes. Als die Epidemie abgeflaut ist, sammelt er seine Meditationen dazu in seinem Trostbuch. Vier Lieder gibt er ihm bei, wovon zwei zu den besten der Kirchenmusik gerechnet werden: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (Gotteslob 357) und eben Wachet auf, ruft uns die Stimme“.

 

In den Liedern wie in den Texten des Buches werden biblische Bilder neu kombiniert und kreativ ausgemalt. Hier sind es das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (aus Matthäus 25) und die Wächter auf den Mauern Jerusalems (aus Jesaja 52 und 62). Nicolai geht es nicht wie im Gleichnis um Buße und Vorbereitetsein (darum kommen törichte Jungfrauen bei ihm gar nicht vor), sondern um die Freude angesichts der Ankunft – hier als Bild für die Auferstehung, die auch den Opfern der Pest verheißen ist. Wie im ganzen Buch soll dies vor allem ein Trost für die trauernden Menschen sein.

Der Dichter und Komponist Philipp Nicolai (c) Wikimedia Commons

In den Strophen 2 und 3 schmückt der Dichter und Komponist das Bild noch mehr aus und benutzt Motive aus weiteren Büchern der Bibel: dem Hohelied Salomos, dem Johannesevangelium, den Psalmen, der Offenbarung des Johannes. Die zweite Strophe stellt die Bewegung von Braut und Bräutigam aufeinander zu dar, die dritte den Jubel des Festes. Die Melodie unterstützt den kraftvollen Text durch Dreiklänge, die zu signalartigen Bläserfanfaren zerlegt sind; die hohen Zinnen stellt sie auch durch die höchsten Töne dar und malt gleichsam mit der Melodie.

 

Das Lied wird ein sofortiger Erfolg: Schon 1604, fünf Jahre nach dem Erstdruck, taucht es im Hamburger „Melodeyen Gesangbuch“ auf und ist seitdem im protestantischen Bereich bis heute beliebt. In katholischen Gesangbüchern findet man das Werk des militanten Lutheraners erst seit 1938, meist ist es bei „Ende des Kirchenjahres“ eingeordnet. Benutzt wird eine Textversion aus dem 19 Jahrhundert, in der der Schluss der letzten Strophe verändert ist. Statt „Des jauchzen wir und singen dir / das Halleluja für und für“ heißt es dort ursprünglich „Des sind wir froh, jo, jo / Ewig in dulci jubilo“ - das Jauchzen war also noch direkt hörbar und die Strophe war lateinisch eingerahmt von „Gloria“ zu Beginn und „in dulci jubilo“.

 

Bekannt sind auch die Kantate, die Johann Sebastian Bach auf Nicolais Lied aufbaute (BWV 140), und seine Bearbeitung zu einem wunderschönen Orgeltrio (BWV 645). Mendelssohn-Bartholdy benutzte das Stück in seinem Paulus-Oratorium. Im Nicolais Text versteckt ist noch eine Widmung: Die Anfangsbuchstaben der Strophen, W-Z-G, ergeben umgekehrt die Initialen des Grafen zu Waldeck, dem das Lied zugeeignet war.

Quellen für diese Serie (c) R. Granacher
Quellen für diese Serie

Wachet auf“, ruft uns die Stimme
der Wächter sehr hoch auf der Zinne,
„wach auf, du Stadt Jerusalem.“
Mitternacht heißt diese Stunde;
sie rufen uns mit hellem Munde:
„Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohlauf, der Bräut'gam kommt,
steht auf, die Lampen nehmt. Halleluja.

Macht euch bereit zu der Hochzeit,
ihr müsset ihm entgegengehn.“