Wo Drogen und Gewalt regieren

Zivildienst im Ausland: Michael Petersik hat eineinhalb Jahre lang brasilianische Straßenkinder in einer „Casa do Menor“ betreut

Datum:
Mi. 10. Okt. 2007
ERBACH. Nach zwei Monaten Zivildienst in Brasilien hatte Michael Petersik genug gesehen, sein Entschluss stand felsenfest: Er schloss sich dem Sozialwerk „Casa do Menor“ an, um dort weitere 16 Monate als Onkel zu arbeiten. „Menor bedeutet die Halbwüchsigen, Kinder, Jugendlichen – steht aber auch geringschätzig für Minderbemittelte und Menschen mit sozialen Defiziten“, erläuterte der Zweiundzwanzigjährige bei seinem Vortrag in der Remise der katholischen Kirchengemeinde St. Sophia in Erbach, wo er über seinen insgesamt eineinhalbjährigen Arbeitseinsatz berichtete.

Im Großraum von Rio de Janeiro hat Petersik gearbeitet, in einem Ballungsraum mit über elf Millionen Menschen. „Die Postkartenbilder der Hauptstadt haben viele Menschen im Kopf: Der Strand von Copacabana, der Zuckerhut, der Carneval.“ Die Kehrseite der Medaille, so Petersik, sei jedoch eine explosiv wachsende Bevölkerung, die sich in Slumvierteln (Favelas) illegalen Wohnraum schafft, und eine immens hohe Kriminalitätsrate: „Ein Menschenleben zählt wenig.“ Der brasilianische Staat habe sich mit einer Reduzierung der Sozialausgaben um 40 Prozent längst aus seiner Verantwortung verabschiedet. Familienleben habe keinen gesellschaftlichen Stellenwert mehr, Kinder seien unerwünschter Ballast. „Für verwahrloste Kinder und Jugendliche ist die Straße ihr Lebensraum“.

Meist leben dort Jungen, die dann Handlangerdienste für die allgegenwärtigen Banden der Drogenhändler verrichten. Mädchen tauchen eher in den Favelas ab, bieten dort ihren Körper feil, geraten früh in die Prostitution. „Dieses Leben ist nur zugedröhnt auszuhalten“, verdeutlichte Petersik und ließ zur Demonstration eine mit etwas Terpentin gefüllte Plastikflasche kreisen – „zum Schnüffeln“.

Zwei Sorten Straßenkinder gelte es zu unterscheiden: diejenigen, die gegen Abend zum Schlafen oder Essen wieder in ihre Slumhütten zurückkehren, und diejenigen, die sämtliche familiären Bande rigoros gekappt haben. Was sie lernen und wie sie leben, gleiche sich jedoch: die Gunst des Augenblicks nutzen, keinerlei Verantwortung tragen, Konflikte gewalttätig lösen mit dem Recht des Stärkeren. „Es gilt, die Spirale der Gewalt durch Hinschauen, Erkennen und Handeln aufzubrechen“, so der junge Erbacher.

Petersik wurde Streetworker, sprach Halbwüchsige an, gewann in langer Kleinarbeit ihr Vertrauen, lud sie in das Sozialwerk „Casa do Menor“ ein. Dessen Leiter, Pater Renato, arbeitet seit nunmehr 36 Jahren in Brasilien. Unterstützt wird er von seiner Heimatgemeinde im Piemont, von Katholiken aus St. Wendel und weiteren Sympathisanten aus Frankreich, der Schweiz und Monaco.

Wenn sich ein Halbwüchsiger für einen Aufenthalt im Sozialwerk entscheidet, nimmt ihn anfangs das „Haus der ersten Ankunft“ auf. Hier wird ihm geboten, was er von seinem Straßenleben her nicht kennt: die Sicherheit und der Halt eines familienähnlichen Verbandes. „Dort erfährt er, dass er als Geschöpf Gottes geliebt wird“, so Petersik. Caboeira-Kurse, dieser Mix aus Tanz und Kampfkunst, bauen sein Selbstvertrauen ebenso weiter auf wie Trommel- und Schwimmunterricht oder Theaterspiel. Wer lang genug bleibt, nimmt dann am Schulunterricht teil und absolviert einen sechsmonatigen Ausbildungskurs. Petersik: „Pro Jahr bildet das Sozialwerk 3000 Jugendliche in 15 Berufen aus.“

Eine Kostprobe der vom Sozialwerk des Paters Renato geschulten Schauspielkunst ist am Donnerstag (11.) ab 19.30 Uhr in der Remise der Pfarrei St. Sophia in Erbach zu erleben: Dann führen Mitglieder der „Casa do Menor“ dort das Musical „Das Leben ist schön, schön und nochmals schön“ auf – als Gelegenheit, danke zu sagen: „Obrigado“.

Horst Kamke
10.10.2007