Schmuckband Kreuzgang

Pfarrer Göttles Wort zum 24. Sonntag im Jahreskreis

Datum:
Sa. 12. Sept. 2020
Von:
Pfarrer Rudolf Göttle

Pfarrer Göttles Worte zu den Lesungen und zum Evangelium des 24. Sonntags im Jahreskreis:

Zur 1. Lesung (Sir 27, 30 - 28, 7)

Das Buch Jesus Sirach gehört zur späten Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Der Autor verfasst darin in der Zeit von ca. 180 bis 175 v. Chr. eine Ansammlung weisheitlicher Texte. In dem heutigen Abschnitt – ebenso wie im Evangelium – geht es um eine der wichtigsten Bewältigungsstrategien, die wir Menschen brauchen, um mit Fehlverhalten konstruktiv umgehen zu können: Es geht um Vergebung!

Das ist oft leichter gesagt, als getan, und „vergeben und vergessen“ geht, glaube ich, noch weniger. Wenn wir uns jedoch das Gleichnis Jesu über Gott anschauen, das vom Barmherzigen Vater (vgl. Lk 15, 11-32), dann ist es in der Tat so, wie es eine Schülerin von mir 2012 in ihrem mündlichen Abitur ausgedrückt hat: „Jesus ist gekommen, um die Vergebung zu zeigen!“ – Das stimmt, und ein Schüler von mir, auch in seiner mündlichen Abiturprüfung (2016), sagte dazu: „Das Christentum lehrt die Fähigkeit, zu vergeben!“ Wir hatten das sicher im Unterricht besprochen, ich habe mir diese beiden Sätze damals aber auf-geschrieben, weil sie es so genial formulieren und auf den Punkt bringen! „Vergebung ist der Schlüssel zur Wende“ hat ein Freund von mir einmal gesagt, und so hat Jesus (es) gelebt! Warum war ihm das so wichtig? Weil an dem, was uns verunsichert, verbogen, verärgert und verletzt hat, so viel negative Gefühle und Energien hängen. Diese verhindern Entwicklung, sie verhindern Verabschiedung des Alten (dieses „Hinter-sich-Lassen“) und ein Anders-Weitermachen, sie führen die ursächliche Täter-Opfer-Beziehung fort, obwohl sie gerade das Gegenteil wünschen. Aber wenn ich nicht aufhöre, meine Wunden zu lecken, dann können sie nicht heilen! Wenn ich das nicht mehr tue, können sie vernarben, d.h. sie bleiben als Erinnerung, aber nicht mehr im Fokus meiner Aufmerksamkeit, sondern meine weitere Entwicklung – mit diesen Narben – steht wieder im Mittelpunkt – und wird möglich, weil ich nicht bei der Verletzung stehen bleibe. „Vergebung“ bedeutet daher konkret, ich gebe (innerlich oder – was unwahrscheinlicher ist – auch persönlich) dem anderen, dem „Täter“, sein Fehlverhalten zurück. Wie geht das? Ein wichtiger Aspekt – und es gibt sicherlich mehrere – ist, die Schwäche / die Schwachheit des Täters zu sehen, der diese durch seine Macht und seine Grenzüberschreitung an mir ausgelebt hat. Meine Verletzung ist also ein deutlicher, nachhaltiger Ausdruck des fatalen und unberechtigten Übergriffs eines anderen. Diese Perspektive kann sehr helfen, wieder in meine Stärke zu kommen, in dem ich die Macht des anderen als eigentliche Ohnmacht / Unvollkommenheit und plumpen Egoismus begreife, sich so zu verhalten.

Für Jesus war natürlich der „Aspekt Gottes“ ebenso wichtig, weil Gott der Stets-sich-Erbarmende ist! Weil er die Sünden, um die er immer schon wusste, immer schon vergeben hat, sollen wir es – gerade auch in diesem Punkt wie in allen anderen Punkten von dem, was wir als göttliche Kraft interpretieren und glauben – ihm gleichtun und diese Vergebung (Gottes) an unsere Mitmenschen weitergeben (= Reich Gottes = Gott wird in seiner Liebe mächtig!). Nur so (!) ist Neuanfang tatsächlich möglich! Und das ist die größte Möglichkeit, Leben immer wieder in andere (hoffentlich bessere!) Bahnen zu lenken! Diese Überzeugung hat nicht nur das Leben und die Botschaft Jesu bestimmt und geleitet, sondern er bringt es beim Letzten Abendmahl als Ge- und Vermächtnis seiner dauerhaften Präsenz und Wirkmacht letzt-gültig auf den Punkt: „Nehmet und trinket alle daraus, das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird – zur Vergebung der Sünden“! Dabei gibt es stets zwei wesentliche Perspektiven: Wenn ich die Vergebung annehme, die mir geschenkt wird, kann ich ohne die Last der Schuld (hoffentlich geläutert und mit nachhaltigem Lernerfolg) anders / besser weitermachen, wenn ich Schuld vergebe, verlasse ich den Opfer-Status und emanzipiere mich gegenüber dem Täter. Beides will Jesus (ermöglichen) – wozu? Damit immer wieder Leben durch Liebe(n) möglich wird – das Ziel und die Erfüllung menschlicher Existenz, vgl. Lk 7, 47: „Ihr [der Sünderin] sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe“!

Lesung aus dem Buch Jesus Sirach:

„Groll und Zorn, auch diese sind abscheulich, nur der Sünder hält daran fest. Wer sich rächt, an dem rächt sich der Herr; dessen Sünden behält er im Gedächtnis. Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben.

Der Mensch verharrt im Zorn gegen den andern, vom Herrn aber sucht er Heilung zu erlangen? Mit seinesgleichen hat er kein Erbarmen, aber wegen seiner eigenen Sünden bittet er um Gnade? Obwohl er nur ein Wesen aus Fleisch ist, verharrt er im Groll, wer wird da seine Sünden vergeben?

Denk an das Ende, lass ab von der Feindschaft, denk an Untergang und Tod und bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote und grolle dem Nächsten nicht, denk an den Bund des Höchsten und verzeih die Schuld!“

Zur 2. Lesung (Röm 14, 7-9)

Für wen leben wir? Wenn wir ehrlich sind, für uns selbst. Wenn wir lieben, auch für den / die geliebten Menschen! Jesus – das sagt uns Paulus heute so nicht, aber das ist der Hintergrund von dem, was wir heute von ihm hören – hat Gott und die Menschen (das war für Jesus gleich!) so sehr geliebt, dass er dafür auch in den Tod gegangen ist. Daher sagt Paulus, dass dadurch wir auch den Auftrag haben, für Jesus zu leben (und zu sterben), d.h. konkret, so zu leben, zu lieben, zu verzeihen, zu teilen etc., wie Jesus das getan hat. Dann leben wir für Jesus, wenn wir für andere leben – um damit selbst glücklich werden!

Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer:

Liebe Schwestern und Brüder!

„Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.“

Zum Evangelium (Mt 18, 21-35)

Wir hören heute, wie oft wir nach der Maßgabe Jesu anderen Menschen vergeben sollen: Nicht siebenmal, sondern „siebzigmal siebenmal“, so die wörtliche Übersetzung! – Warum diese Zahlen? Zunächst einmal bezeichnet „7“ im Juden- und Christentum die Zahl der Vollkommenheit (7 Tage der Woche = Schöpfung, 7 Weltwunder, 7 Noten der Tonleiter, 7 Bitten des Vaterunser, 7 Sakramente), „70“ setzt sich zusammen aus 7 x 10, d.h. die Zahl der Vollkommenheit mal die Zahl der Fülle = eine große Menge, 70 x 7 bedeutet also „unendlich“. Es gibt dazu einen alttestamentlichen Zusammenhang, auf den Jesus zurückgreift: Im Buch Genesis erschlägt Kain seinen Bruder Abel aus Neid (was zu den vier Ursünden der Urgeschichte des Menschen gehört: Sündenfall, Brudermord, Sintflut und Turmbau zu Babel)(vgl. Gen 4, 8). Die Strafe Gottes für Kain ist nicht, dass er nun selbst zu Tode kommt, sondern im Gegenteil: Wer Kain erschlägt, soll „siebenfacher Rache verfallen“ (Gen 4, 15) sein, damit er mit seiner Schuld und den Folgen leben (!) muss (wenn man mag, kann man auch aus dieser Bibelstelle eine Ablehnung der Todesstrafe erkennen). Dies ist eine psychologisch-religiöse Deutung, sozialgeschichtlich beschreibt die Drohung der siebenfachen Rächung, dass ein Mord schwerwiegende Folgen hat und nie ungerächt bleibt! – Ein Nachfahre Kains, Lamech, brüstet sich nun in Gen 4, 24: „Wird Kain siebenmal gerächt, so Lamech siebzigmal siebenmal“ als Schilderung einer exzessiven Blutrache eines Clans, der auf den „ersten“ Mörder der Menschheitsgeschichte zurückgeht.

Um zu verdeutlichen, nicht nur wie notwendig, sondern auch wie zwingend erforderlich und von Gott geboten die Vergebungsbereitschaft der Menschen sein sollte, beschreibt das Jesus (wie meistens) anhand eines Gleichnisses: Zur Zeit Jesu bestand der Wert von einem Talent aus 6000 Denaren, wobei ein Denar ungefähr den Wert von 20,- € hatte. 10.000 Talente haben also den heutigen Gegenwert von 1,2 Milliarden €, gemeint ist allerdings damit nicht eine konkrete Geldsumme, sondern die „größte vorstellbare Geldmenge“ (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament: Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium, II, S. 145). 100 Denare sind dementsprechend 2000,- €, also – wenn man es wieder monetär (= das Geld betreffend) ausdrücken möchte: ein Sechshunderttausendstel (1/600.000)!

Wenn Gott uns so unvorstellbar viel Schuld vergibt, müssen wir aneinander doch das im Vergleich dazu unvorstellbar Geringere doch auch vergeben, denn Gott vergibt uns, damit wir vergeben!

Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus:

In jene Zeit trat Petrus zu Jesus „und fragte:

Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?

Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.

Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König, der beschloss, von seinen Dienern Rechenschaft zu verlangen. Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm, der ihm zehntausend Talente schuldig war. Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. Da fiel der Diener vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen. Der Herr hatte Mitleid mit dem Diener, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.

Als nun der Diener hinausging, traf er einen anderen Diener seines Herrn, der ihm hundert Denare schuldig war. Er packte ihn, würgte ihn und rief: Bezahl, was du mir schuldig bist! Da fiel der andere vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.

Als die übrigen Diener das sahen, waren sie sehr betrübt; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war. Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?

Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe. Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.“