Schmuckband Kreuzgang

Pfarrer Göttles Wort zum 30. Sonntag im Jahreskreis

Datum:
Fr. 23. Okt. 2020
Von:
Pfarrer Rudolf Göttle

Pfarrer Göttles Worte zu den Lesungen und zum Evangelium des 30. Sonntags im Jahreskreis:

Zur 1. Lesung (Ex 22, 20-26)

Aus dem Buch Exodus hören wir heute, wie man – laut Gottes Weisung – mit Bedürftigen umgehen soll. In der antiken Gesellschaft im Vorderen Orient waren das v.a. zunächst einmal Witwen und Waisen, die nicht nur finanziell, sondern auch rechtlich in ungesicherten Verhältnissen leben mussten. Sie waren existentiell von der Barmherzigkeit, der Güte und dem Schutz der Familie oder anderer Menschen abhängig. Diese dauerhafte Notsituation auszunutzen, ist – laut Exodus – mit Gottes Strafe belegt. Das gilt ebenso für das Verleihen von Geld an Arme, das nicht mit Wucherzinsen zurückgefordert werden darf. „Darlehen“-Sicherheiten dürfen dabei keine Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens sein. –

Warum gibt es zu dem Umgang mit Bedürftigen und Notleidenden eine deutliche Weisung Gottes? Weil Gott „Mitleid“ (Ex 22, 26c) hat! Es zeigt sich in diesem Textabschnitt also ein Gottesbild, das Gott eindeutig auf der Seite der Entrechteten und Hilflosen sieht. Dem zugrunde liegt eine soziologische Dimension und (ethische) Überzeugung, die auch der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Amartya Sen (* 1933) (die Verleihung war am 18.10.2020 wie immer in der Paulskirche in Frankfurt / Main) in seinen Studien intensiv untersucht und herausgearbeitet hat: Eine seiner wichtigsten Thesen ist, dass nicht nur das Wirtschaftswachstum gesellschaftlichen Wohlstand bedingt, sondern besonders auch durch die Miteinbeziehung der Schwächsten der Gesellschaft und ihre Entwicklungsmöglichkeiten gewährleistet wird (einige Bücher von Sen sind: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Hanser-Verlag, München 2020; Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit. Verlag C. H. Beck, München 2020).

Lesung aus dem Buch Exodus:

So spricht der Herr: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, sodass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden.

Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern.

Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.“

Zur 2. Lesung (1 Thess 1, 5c-10)

Paulus hebt in dem heutigen Abschnitt aus seinem (ältesten) Brief an die Christen in Thessalónich hervor, mit welcher Freude und mit welcher Kraft (nämlich des Heiligen Geistes) sie das Wort Jesu aufgenommen und – trotz großer Bedrängnis – den Glauben weitergegeben haben.

Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper:

Schwestern und Brüder,

„ihr wisst selbst, wie wir bei euch aufgetreten sind, um euch zu gewinnen.

Und ihr seid unserem Beispiel gefolgt und dem des Herrn; ihr habt das Wort trotz großer Bedrängnis mit der Freude aufgenommen, die der Heilige Geist gibt.

So wurdet ihr ein Vorbild für alle Gläubigen in Mazedonien und in Achaia.

Von euch aus ist das Wort des Herrn aber nicht nur nach Mazedonien und Achaia gedrungen, sondern überall ist euer Glaube an Gott bekannt geworden, sodass wir darüber nichts mehr zu sagen brauchen.

Denn man erzählt sich überall, welche Aufnahme wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Gericht Gottes entreißt.“

Zum Evangelium (Mt 22, 34-40)

Zur Zeit Jesu gab es vier religiöse Gruppierungen im damaligen Judentum in Palästina:

Die Sadduzäer waren die gesellschaftliche Oberschicht, Adel und Priester. Ihre politische und religiöse Haltung war konservativ mit dem Ziel, den Status quo zu erhalten. Deswegen waren sie auch Fremdherrschaften, im speziellen der damaligen römischen gegenüber, nicht offen ablehnend, sondern auch zu Zugeständnissen und Kompromissen bereit, um die bestehende soziale Ordnung nicht zu gefährden. Ihre einzige Autorität war die Thora, das „Gesetz“ Gottes. Alles, was darin nicht formuliert war, lehnten sie ab, dementsprechend auch neuere religiöse Vorstellungen und Entwürfe.

Die Gegengruppe zu den Sadduzäern waren die Pharisäer (hebr. Peruschim = die Abgesonderten). Sie hatten wenig politisches Interesse, hielten sich nicht nur an „das Gesetz“, sondern befolgten es  peinlich genau und zeichneten sich daher durch eine hohe moralische Strenge aus, weswegen sie in der Bevölkerung ein hohes Ansehen genossen und die eigentlichen geistigen Führer des Judentums zu der damaligen Zeit waren.

Die Zeloten (= Eiferer) waren fanatische Draufgänger, die mit Gewalt für die Befreiung Israels kämpften. Judas Iskariot gehörte höchst wahrscheinlich ursprünglich zu ihnen (obwohl im NT nur „Simon, genannt der Zelot“ (Lk 6, 15) als solcher erwähnt wird), was ihm spätestens ab dem Einzug Jesu in Jerusalem zum bevorstehenden Paschafest (30 n. Chr., vgl. Mk 14, 43) zum Verhängnis wird: Die Zeloten waren davon überzeugt, dass ihnen Gott auch ganz praktisch in ihrem Kampf zu Hilfe kommt. Das würde erklären, warum Judas Jesus zunächst an seine Gegner verrät (und sich dann kurz nach der Verurteilung Jesu das Leben nimmt (vgl. Mt 27, 3-5)), damit er – und damit vermeintlich Gott – in eine derartig ausweglose Situation gerät, die Gott quasi dazu zwingt, einzugreifen, um seinen Sohn zu retten. Diese Deutung halte ich für die überzeugendste, um seine Selbsttötung nach der Verurteilung Jesu zu erklären.

Die Essener waren eine kleine religiöse Sekte, die sich vom offiziellen Tempelkult abgewandt hatten, um mit apokalyptischer Überzeugung und einem strengen, klösterlichen Leben in der Wüste von Judäa auf das Hereinbrechen des Gerichtes Gottes zu warten.

Der jüdisch-römische Krieg von 66 bis 70 n. Chr. (er kostete schätzungsweise einem Drittel der jüdischen Bevölkerung das Leben) endete mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch die Römer. Damit verlor das Judentum sein religiöses und kulturelles Zentrum, weswegen das Amt des Hohenpriesters nicht mehr besetzt wurde und sich die Religionspartei der Sadduzäer auflöste. Dadurch waren die Pharisäer die einzige überlebende jüdische Strömung / Gruppe, und so wird in den Evangelien, die ja erst ab 70 n. Chr. (zuerst Markus) geschrieben werden, meistens von den „Pharisäern“ gesprochen, obwohl historisch im Kontext Jesu auch andere jüdische Gruppierungen involviert waren.

So hören wir heute, dass Jesus, nachdem er die Sadduzäer durch seine Weisheit und Argumentation „zum Schweigen gebracht hatte“ (Mt 22, 34), nun von den Pharisäern überlistet und als Scharlatan entlarvt werden soll. Diese kennen sich, wie oben erwähnt, grundsätzlich viel besser mit „dem Gesetz“, der Thora, aus, und sie wissen – jemand hat das mal nachgezählt –, dass es im Alten Testament insgesamt 613 Ge- und Verbote gibt: 248 Ge- und 365 Verbote. Ihre Frage an Jesus, welches dieser Gesetze denn nun das wichtigste sei, kann aufgrund ihrer Vielzahl eigentlich nur zu einer falschen Antwort führen. Die Antwort Jesu ist jedoch wie immer unüberbietbar und essentiell: Er konkretisiert, wodurch die ganze Schöpfung (und daher jede Vorschrift) ihren Ursprung und ihr Ziel bekommt und damit den Lebensauftrag für jeden Menschen: Liebe Gott, und deinen Nächsten wie dich selbst! Damit sind alle Ge- und Verbote erfüllt! Konkret und praktisch bedeutet das, dass nach der Überzeugung und Botschaft Jesu der wirkliche Gottesdienst sich im Dienst am Nächsten vollzieht, und die Nächstenliebe der eigentliche Gottesdienst ist (wer unser „Nächster“ ist, verdeutlicht Lukas in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, vgl. Lk 10, 29-37: Immer der, der jetzt unsere Hilfe braucht!). Wie eine Schülerin von mir in ihrem mündlichen Abitur 2016 formulierte: „Alles baut auf der Liebe auf!“ – das stimmt!! Die Liebe ist die einzige Kraft, die alles heilen und alles überwinden und alles binden kann!

Wo in unserem Leben müssen mehr daran glauben?

Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus:

In jene Zeit, „als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie (bei ihm) zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“