Schmuckband Kreuzgang

Allerheiligen und Allerseelen

Datum:
Do. 2. Nov. 2023
Von:
Pfr. em. Kurt Sohns

Am 1. und 2. November werden in der Kirche zwei wichtige Tage begangen: Allerheiligen und Allerseelen. Beide Tage sind, richtig verstanden, Anlass zur Hoffnung. Denn an beiden Tagen wird von dem Geheimnis gesprochen, dass Menschen Gott unverlierbar gefunden haben.

An Allerheiligen werden wir mehr daran erinnert, dass Menschen in bewundernswerter Weise ihren Weg zu Gott gegangen sind. An Allerseelen lautet die Botschaft: Gott lässt den Weg von Menschen gelingen, auch wenn er oft ein Umweg oder einen Irrweg ist.
Wenn wir das Gelingen des Lebens feiern, dann ist auch der Gedanke da oder auch die Angst, es könnte misslingen. Ob Gott ein gescheitertes Leben endgültig im Scheitern belässt, das wissen wir nicht. Unsere Hoffnung, dass kein Mensch verloren geht, kann nicht groß genug sein. Wir werden als Hoffende Fragende sein müssen, und nur als Fragende wird sich uns die Hoffnung erschließen. Welche Fragen sind es, die wir uns zu stellen haben? Augustinus bekennt einmal in seinem Suchen, über sich selbst zur Klarheit zu kommen, vor Gott: „Ich bin mir zur Frage geworden.“ Das ist kein oberflächliches Fragen, da ist zu spüren, wie alles auf dem Spiel steht.

Von solch einem Fragen ist im Evangelium die Rede (Mk 12,28-39). Einer der Schriftgelehrten, der Jesus im Streitgespräch erlebt und dabei gespürt hatte wie sein Reden das Leben betrifft, fragt ihn: „Welche Weisung ist die allererste?“ Also: Worauf kommt es im Leben vor allem an? Die Gegenwart, die Jesus gibt, besteht, formal gesehen, aus drei Teilen. Am Ende fasst Jesus diese drei Teile zusammen und be-zeichnet sie als die eine Weisung, zeigt damit, dass die drei Teile eine Einheit bilden.

Der erste Teil lautet: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einziger Herr.“ Damit sagt Jesus: Wenn du die Frage stellst, worauf es vor allem anderen ankommt, dann musst du mit Gott zu tun bekennen und zwar so, dass Er dich unbedingt angeht (Tillich). Was viele als ihr Verhältnis zu Gott beschreiben, erscheint als eine recht unverbindliche Sache. Da ist Gott gewissermaßen einer von vielen Faktoren innerhalb eines Kräftespiels. Man kann ihm eine gewisser Zeit widmen, aber das Leben als ganzes hat dann nicht mit ihm zu tun. In der Antwort, die Jesus gibt ist Gott der, der das Wort sagt, auf das der Mensch mit seinem ganzen Hörvermögen ausgerichtet ist. In diesem Sinn hat Karl Rahner den Menschen von seinem tiefsten Wesen her als „Hörer des Wortes“ beschrieben.
Weil der Mensch im tiefsten seines Wesens auf Gott bezogen ist, da-rum finden wir im zweiten Teil der Antwort Jesu viermal das Wort „ganz“. Die Liebe zu Gott soll geschehen „aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Sinnen, aus deiner ganzen Stärke“.

„Die größte Vollkommenheit des Menschen ist sein tiefster Mangel, Gottes zu bedürfen“. Dieser Wunsch, ganz zu sein, nicht mit einem zerstückelten Leben sich abzufinden, ist da in der Frage des Schriftgelehrten an Jesus: „Welche Weisung ist die allererste?“ Darum ist in der Antwort Jesu, die er aus der biblischen Tradition heraus gibt, notwendigerweise das ganz-sein angesprochen: Gott aus allen Kräften zu lieben. Wenn unser Person sein durch unsere Beziehungen zu anderen Personen, letztlich zu Gott, definiert wird, dann „ist es unsere Auf-gabe, Person zu werden, und zwar durch tiefere und komplizierte, höher entwickelte Beziehungen. Dem streben nach echter Persönlichkeit sind keine Grenzen gesetzt“ (David Steindl-Rast).
So ist in den Worten Jesu, Gott zu lieben „aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Sinnen und aus deiner ganzen Stärke“ der nach seinem Ganzsein fragende Mensch auf sein volles Menschsein angesprochen und dazu herausgefordert.

Noch ein Wort zu dem dritten Teil der Antwort Jesu, die lautet: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Oder anders gesagt: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“. Ich finde diese Übersetzung gut, weil in ihr der Grund, dem Nächsten gut zu sein, mit-angegeben ist: Die Nächste, der Nächste ist wie du, lebt mit den gleichen Wünschen und Sehnsüchten mit der gleichen Angst und Verzweiflung, mit dem gleichen Verlangen, angenommen und nicht der Gleichgültigkeit und Isolierung ausgesetzt zu sein.

Ich erinnere noch einmal an Allerheiligen und Allerseelen. Die Erinnerung an die, die vor uns gelebt haben, soll ja keine unverbindliche Erinnerung sein. Vielmehr bekennen wir die Gemeinschaft der Heiligen und bekennen uns zu ihr. Wir bekennen, dass die Sehnsucht und die Entschlossenheit zum Ganzsein, die sie, strahlend oder auch mühselig zur Entfaltung kommen ließen, auch in uns da sind und zur Ent-faltung drängen. Und in diesem Bekenntnis weigern wir uns, dem anmaßenden Egoismus der jetzt Herrschenden der Welt, die sich über die Sehnsucht nach Leben und dem Recht auf Leben der Armen, der Heimatlosen, der Wohnungssuchenden, der Entrechteten hinwegsetzen, das Feld zu überlassen.
Es wäre ein Zeichen unserer Solidarität und Heiligkeit, wenn wir es ablehnen, die Flüchtlinge pauschal zu verdächtigen als würden die meisten das Asylrecht missbrauchen. Es wäre ein Zeichen unserer Solidarität und Heiligkeit, wenn wir die Lösung der Flüchtlingsfrage nicht in der Abschottung unserer Grenzen sehen und in dem Versuch, mit allen Mitteln Fluchtverhinderung zu betreiben.

Natürlich dürfen wir als Christen nicht so tun, als seien die angesprochenen Fragen keine großen Probleme oder leicht zu beantworten. Wir leben in großen Spannungen, wir erleben große Interessensgegensätze, wir hören von da und von dort Imperative, Handlungsanweisungen, politische Parolen, Drohungen. Und die Gefahr ist, dass wir vergessen, was der Schriftgelehrte des heutigen Evangeliums nicht vergessen hat, die Frage zu stellen: „Welche Weisung ist die allererste?“
Das soziale Klima in unserem Land wird kälter, und der Egoismus wird größer, wenn die Frage nicht gestellt wird. Bei allen Grausamkeiten, die wir täglich in den Nachrichten hören, es ist wie ein Wärmestrom in einer kalten Welt, wenn wir von einzelnen oder von

Gruppen hören, die sich auf die Seite der Schwachen stellen und ein Herz für die Armen haben. Die Hoffnung der Liebenden ist, dass die Welt nicht erkalten muss.


Kurt Sohns