Schmuckband Kreuzgang

Das Fragen nach Gott wird bleiben

Datum:
Do. 25. Jan. 2024
Von:
Pfr. em. Kurt Sohns

Wir sind daran gewöhnt, das Evangelium eine befreiende Botschaft zu nennen. Wir verstehen dabei Befreiung als Freiwerden von dem, was am eigentlichen Leben hindert. Mehr oder weniger tief stecken wir in Unfreiheiten. Viele leiden unter der Unfreiheit in der Begegnung mit Menschen, oft mit denen, die sehr nahestehen. Oder es ist die Unfreiheit, immer mehr „haben“ zu müssen; doch das Haben bringt keine Befriedigung. Oder es ist die Unfähigkeit, sich zu freuen, glücklich zu sein. Man müsste das Bedrückende abschütteln können-, aber es geht nicht. Natürlich lässt sich dagegen das Evangelium nicht wie ein äußeres Mittel anwenden. Es wird seine Kraft nur dann entfalten, wenn wir in ihm die Wahrheit, die uns zutiefst nicht fremd ist, also die in uns angelegte Wahrheit, erkennen und wenn wir uns durch das Evangelium, durch Jesu verkündetes und gelebtes Wort, bewegen lassen, uns zu dieser Wahrheit zu bekennen und uns ihr zu erschließen.

Ich nehme eine der Seligpreisungen, um das zu verdeutlichen. Jesus preist die glücklich, die Frieden stiften-, denn sie werden Söhne und Töchter, Kinder Gottes genannt werden. Man kann im Unfrieden leben. Der Unfriede hat ja tausend Gestalten. Im Unfrieden leben, bedeutet: sich selbst oder den anderen daran hindern, in einer helfenden, zur Freude führenden Weise miteinander umzugehen. Frieden stiften (im Psalm 34,15 heißt es: Suche Frieden und jage ihm nach!) bedeutet: in der Bereitschaft leben, zu fördern, was dem Miteinander dient.

Die Verheißung, die diesem Verhalten zugesprochen wird, ist zugleich das diesem Verhalten innewohnende Ziel. Denn nur wenn ich dem Miteinander diene, bejahe ich die Gemeinschaft, die Gott will und öffne mich ihr, bin also bereit und fähig, Gottes Geschenk anzunehmen, der mich nur will, wenn ich den anderen, den Er auch will und mit mir will, nicht ausschließe.

Es gibt vieles was uns hindert, uns der im Evangelium angebotenen Wahrheit anzuvertrauen. Es geht uns wie den Menschen, die im Evangelium als Jünger Jesu geschildert werden. Sie begreifen so viel von Jesus, dass sie bei ihm bleiben. Und sie begreifen so wenig, dass sie, wenn es ihnen nachginge, die Wahrheit Jesu auf den Kopf stellen würden. Als sie in einem Dorf keine Unterkunft erhalten, wollen sie das Dorf durch Feuer vom Himmel vernichten (Lk 9, 51-56). Als Petrus begreift, wie konsequent Jesus seinen Weg geht, und als er wahrnimmt, in welche Gefahr er dabei gerät, da versucht er, Jesus zu einem anderen Verhalten zu bewegen und muss die harte Zurechtweisung Jesu ertragen.

Auch die Frage, die nach dem heutigen Evangelium Petrus stellt, ist nicht nur die Frage des Petrus, sondern eine Frage, die in der frühchristlichen Gemeinde daist. „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?“ Aus der Antwort, die Jesus gibt, lässt sich erkennen, welche Bedeutung Jesus dem Vergeben bzw. dem Nichtvergeben zuschreibt. Wir leben in einer Welt, die von der Zerstörung durch den Menschen bedroht ist. Diese Bedrohung erfährt nicht erst unsere Generation. Immer gab es Anlass, dem anderen heimzuzahlen, was er verkehrt gemacht hat. Familien wurden durch Blutrache zerstört. Stämme rotteten einander aus. Völker suchten sich zu vernichten. Mit den modernen Vernichtungswaffen ist das Ausmaß der möglichen Zerstörung ins Unermessliche gestiegen. Wenn wir daran denken, mit welcher Hartnäckigkeit Feindbilder verteidigt und neu aufgebaut werden-, wenn wir erleben, wie schnell der, der von den als notwendig empfundenen Feindbildern zu befreien sucht, in Misskredit gerät-, dann lässt sich er-ahnen, wie schwer es fallen muss, dem anderen wirklich zu verzeihen und Schuld zu vergeben. Jesus lässt sich durch die Frage, wie oft zu vergeben sei, auf Zahlen nicht festlegen. Was heißt das? Petrus macht eine großzügige Vorgabe mit dem Verzeihen. Bis zu siebenmal?

Sieben als heilige Zahl, als Zahl der Vollendung, der Fülle-, das bedeutet schon viel. Die Zahl, die Jesus nennt, deutet unbegrenzte Bereitschaft zur Vergebung an. Maß des Vergebens ist nicht zu nehmen an der moralischen Fähigkeit des Vergebenden, sondern an der Notwendigkeit des Vergebens für die Möglichkeit des mitmenschlichen Lebens. Im Alten Testament wird erzählt, wie Kain, der nach dem Mord an Abel sich ruhelos weiß und dem Zugriff aller ausgesetzt, durch Gott besonders geschützt wird. Ihm wird gesagt: „Jeder, der Kain erschlägt, soll siebenfacher Rache verfallen“. Von den Nachkommen Kains, von Lamech, wird ein übermütiges Lied überliefert, in dem er für sich das Recht maßloser Rache in Anspruch nimmt.
„Einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenund-siebzigfach“ (Gen 4,23 f.).

Hier ist die Zahl, die im Evangelium wieder daist. Wolfgang Trilling schreibt dazu in seinem Mt.-Kommentar (Geistliche Schriftlesung): „Dieser Text steht am Anfang der großen Unordnung in der Schöpfung… Gegen diese furchtbare Zerstörung der Welt Gottes setzt Jesus seine Weisung… Da die Sünde so tausendfältig in der Welt ist, kann sie nur aufgehalten werden, wenn ihr ein ebenso großes Maß an Gutem entgegengestellt wird“.

An diesen Gedankengang schließt sich das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger an. Wenn wir es hören, werden wir an unsere eigene Situation erinnert. Im großzügig Vergebenden scheint die Gestalt Gottes durch. In dem, der kleinlich mit dem ihm gegenüber in Schuld Geratenen umgeht, müssen wir uns selbst erkennen. „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen?“ Es ist nicht leicht, vor sich selbst einzugestehen: Ich habe mich kleinlich, unmenschlich, erbarmungslos verhalten. Ich habe dem anderen gegenüber nichts spüren lassen von der befreienden Liebe Gottes. Weil ich gekränkt war, weil meine Pläne durchkreuzt wurden, weil mir die Hoffnung zerstört wurde, darum habe ich es nicht fertiggebracht, weiterhin dafür Sorge zu tragen, dass nicht das Böse überhandnimmt in der Welt, sondern das Gute Raum gewinnt.

Ich will noch auf eine Schwierigkeit im Gleichnis hinweisen, die sich ergeben kann, wenn wir es auf Gott übertragen. Und im Evangelium tut es Jesus. Da wird zwar Gott als großzügig geschildert. Aber die Großzügigkeit hat ihre Grenzen, da wo der Mensch nichts von der Liebe begreift und unbarmherzig lebt. Hat Jesus so von Gott geredet? Hat Jesus Gott wirklich mit einem weltlichen absolutistischen Herrscher verglichen, der den Schuldigen foltern lässt? Obwohl mir klar ist, dass nicht in verharmlosender Weise vom Schicksal dessen gesprochen werden darf, der selbst Menschen zerstört-, ich kann mir Gott so grausam nicht vorstellen. Ich war froh, als ich bei Rudolf Bultmann (Die Geschichte der synoptischen Tradition) zu der Aussage Gott, werde den, der nicht zur Vergebung bereit ist, foltern lassen, den Zweifel fand, ob diese Aussage ursprünglich von Jesus gemacht worden sei.

Und ein anderer Gedanke kam mir. Demnach bestände die Aussageabsicht dieses Satzes darin, zu zeigen, wie der gegen einen anderen unbarmherzigen, grausamen Menschen durch seine Unmenschlichkeit seine eigene Seele, die zum Lieben bestimmt ist, zerstört und letztlich nicht mehr glücklich, sondern nur noch gequält weiterleben kann.
Auch im Evangelium ist von Gott in menschlicher Weise die Rede. Das heißt, Er wird nicht erfassend beschrieben. Fragen bleiben. Dass die zentralen Aussagen über Ihn zu einer großen Hoffnung berechtigen, darüber habe ich keinen Zweifel. Aber wahrscheinlich wird es mit der Hoffnung so bestellt sein, dass wir aus ihr nur leben können, wenn wir durch unser Leben anderen Grund zur Hoffnung geben. Dass uns dies im Sinne Jesu gelingt, darum kommen wir immer wieder in seinem Namen zusammen (Mt 18, 21-25).


Kurt Sohns