Es ist eine sehr schöne Erzählung, die ich schon mehrmals mit Freude gelesen habe. Es geht in ihr um einen alten Mann, der an jedem Tag um 12.00 Uhr in die Kirche ging, aber nur kurz in ihr verweilte. Als der Pfarrer ihn fragte, was er in der Kirche tue, bekam er zur Antwort: „Ich komme, um zu beten“. Der Pfarrer fragte skeptisch, ob denn die kurze Zeit reiche für ein wirkliches Gebet. Die Antwort des alten Mannes: „Ich kann kein langes Gebet sprechen. Ich sage jeden Tag: -Jesus, hier ist Johannes-. Dann warte ich eine Minute, und er hört mich“. Einige Zeit später lag Johannes im Krankenhaus. Die Schwestern und Ärzte spürten, dass er einen heilsamen Einfluss auf die Patienten hat. Eine Schwester sagte ihm, die Kranken würden sagen, er habe diese Veränderung bewirkt. Immer sei er gelassen, fast heiter. Der Mann sagte: „Schwester, dafür kann ich nichts. Das kommt durch meinen Besucher“. Da niemand von einem Besucher wusste, fragte die Schwester: „Dein Besucher, wann kommt er denn?“ „Jeden Mittag um 12.00 Uhr. Er tritt ein, steht am Fußende meines Bettes und sagt: -Johannes, hier ist Jesus“.
Die Geschichte wirkt auf mich ermutigend. Ähnlich wie es die Worte Jesu sind, der seinen Vater preist, weil er die Unmündigen, die in den Augen der Welt Unbedeutenden, erkennen lässt, was den Großen der Welt, den Bescheid Wissenden verborgen bleibt (Mt 11,25). In der kleinen Geschichte gehört der Pfarrer zu der zweiten Gruppe. Er wird nicht naiv geschildert, aber im Sinne Jesu als einer, der Bescheid weiß. Er weiß, dass man sich für das Beten Zeit neh-men muss. Doch was heißt: man muss? Die Menschen sind so verschieden, dass sie nicht mit einem Maß gemessen werden können. Hätte der Pfarrer nicht ahnen müssen, dass es mit diesem Mann etwas Besonderes ist?
Das Besondere zeigt sich in der Art seines Betens. Er weiß, es ist nicht nötig, beim Beten viel zu sagen. Jesus warnt sogar davor, beim Beten viele Worte zu machen. In der Übersetzung des Neuen Testaments von Fridolin Stier liest sich die Warnung Jesu so: „Beim Beten aber mundwerkt nicht wie die aus den Völkern. Sie meinen ja, durch ihren Wortschwall würden sie erhört“ (Mt 6,7). Die Menge der Worte ist nicht Ausschlag gebend. Wer zu viel redet, deutet den Hörenden als unaufmerksam oder schwer verständig. „Euer Vater weiß, was ihr braucht, ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,7 f.). Dem alten Mann genügen für sein Gebet die wenigen Worte: „Jesus, hier ist Johannes“. Er versichert sich durch dieses Wort, dass er ganz wach, ganz da ist für die Begegnung mit Jesus. Der Philosoph Peter Sloterdijk bemerkte einmal, die tiefsinnigste aller Fragen sei die des Kasperle an die Kinder zu Beginn einer Vorstellung: „Seid ihr alle da?“ Ähnliches beim Gottesdienst. Der Anruf an die Gemeinde zum Beginn des Hochgebets „Erhebet die Herzen“ will uns aufmerksam machen, dass es darauf ankommt, ganz, mit ganzem Herzen bei dem heiligen Geschehen da zu sein. Die Antwort: „Wir haben sie beim Herrn“ ist, wenn sie bewusst gegeben wird, die Aktualisierung unserer Präsenz: Ich bin da! Ich bin mit den anderen da in der Gegenwart Gottes, die Er uns in seinem Namen „Ich bin da“ (Jahwe) zugesichert hat (Ex 3,14).
Bedeutsam in der Erzählung ist auch, dass der Mann nach seinem kurzen Gebet „eine Minute“ wartet. Das Warten auf die Antwort ist wichtig. Wie lange für jeden und jede für uns die „eine Minute“ dauert, lässt sich nicht von außen sagen. Wenn wir gesammelt sind, wird die „eine Minute“ kurz sein können. Wenn wir aus der Zerstreutheit kommen, wer-den wir mehr Zeit brauchen, bis wir spüren: Mein Beten geht nicht ins Leere.
Was im zweiten Teil der Geschichte erzählt wird, kann den Wunsch in uns wecken, so wie dieser alte Mann aus der Begegnung mit Jesus geprägt zu sein. Er hat in aller Einfachheit in der Art Jesu gelebt. So konnte er, als er nach der Wirkung, die von ihm ausging, gefragt wurde, nur sagen: „Das kommt durch meinen Besucher“. Paulus hat im Brief an die Galater der Gemeinde Ähnliches gesagt: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, es lebt in mir Christus“ (2,20). In einer frühchristlichen Schrift, in dem Brief des Märtyrerbischofs Ignatius von Antiochien an die Smyrnäer wird Christus „vollkommener Mensch“ genannt. Seine Nähe zu Gott hat sein Menschsein nicht gemindert, sondern vollkommen gemacht. In der Erzählung berichten die Kranken von dem alten Mann nichts Frommes. Sie bezeugen nur: „Immer bist Du gelassen, fast heiter“. Menschlich heilig sein, darauf kommt es an. Teilhard de Chardin hatte in sein Tagebuch geschrieben: „Ich wollte ein ganzer Christ sein, doch dabei ein menschlicherer Mensch bleiben als irgendjemand sonst. War das möglich?“
Etwas später schrieb er: „Sie“ (die Kirche) „muss den Christen menschlicher werden lassen, weil er Christ ist“. Das ist eine wichtige Aufgabe für unsere Zeit.
Kurt Sohns