Schmuckband Kreuzgang

Stellungnahme von Bischof Peter Kohlgraf

Reaktion auf die Diskussion um Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche

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Datum:
Mi. 26. Jan. 2022
Von:
Bischöfliche Pressestelle Mainz/Tobias Blum

Die Veröffentlichung des Gutachtens zum sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München-Freising schlägt hohe Wellen. Diese Studie erhält nach anderen vorher eine besonders hohe Aufmerksamkeit, weil auch das Verhalten des emeritierten Papstes Benedikt XVI. in seiner Zeit als Erzbischof von München unter die Lupe genommen wird. Die Studie weist ihm, wie anderen Erzbischöfen, Pflichtverletzungen nach. Seine 82-seitige Stellungnahme stößt in der Öffentlichkeit auf großes Unverständnis, ja Empörung.

 

Mehrere Diözesen haben ähnliche Studien veröffentlicht oder in Auftrag gegeben, so auch das Bistum Mainz. Dabei sind die Studien methodisch unterschiedlich angelegt: Es gibt juristische, historische und andere Ansätze. Rechtsanwalt Ulrich Weber aus Regensburg führt für die Studie zum Bistum Mainz mit dem Titel "Erfahren.Verstehen.Vorsorgen" (EVV) in der Hauptsache Gespräche - mit Betroffenen, mit Zeuginnen und Zeugen, mit Menschen, die etwas wissen. Daraufhin schaut er in die Akten und sieht, was sich dort an Informationen abbildet oder eben nicht. Das systemische Umfeld des Missbrauchs wird dadurch weiter gefasst als das Verhalten der Verantwortlichen im Bischofshaus oder im Ordinariat. Die Verantwortlichen haben Beschuldigte oder Täter oft geschützt, aber auch das Umfeld der Betroffenen hat aus Sorge um Gerede, das Ansehen des Priesters oder den eigenen guten Ruf nicht immer angemessen reagiert. Ein solches Verhalten ist auch in vielen Familien, Verbänden oder Gruppen bis heute zu beobachten.

Diese Studien erfahren in den Medien hohe Aufmerksamkeit. Menschen wollen Verantwortliche benannt wissen, besonders wenn es um prominente Namen geht. Ich halte es aber für notwendig darauf hinzuweisen, dass Studien nicht die Aufarbeitung sind; sie sind ein Mosaikstein, aufzudecken, zu verstehen, und daraus Konsequenzen zu ziehen. In der Berichterstattung kann man eine ansonsten oft kritisierte Fixierung auf die Täter anmerken. Zumindest gegenüber dem Leid einzelner Betroffener ist die Berichterstattung über Täter in der Kirche dominant. Genauso wie die Frage der Höhe des Geldbetrags der Anerkennungsleistung für erlittenes Leid nicht die ganze Aufarbeitung sein kann. Die mediale Öffentlichkeit reduziert jedoch das sehr komplexe Thema der Aufarbeitung oft auf diese Themen. Wenn diese die individuellen Lebenssituationen der Betroffenen in den Blick nehmen soll, kann es damit nicht getan sein. Es ist unter anderem die Aufgabe der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz, diese Komplexität zu bearbeiten, im Hinblick auf den einzelnen betroffenen Menschen, aber auch im Hinblick auf eine verlässliche und transparente Intervention im Falle einer Beschuldigung, in Bezug auf Prävention, und schließlich auch, eine angemessene Erinnerungs- und Mahnkultur zu entwickeln, die das Leid nicht der Vergessenheit anheimgibt. Möglicherweise tauchen noch andere Themen der Aufarbeitung auf.

Ich will nicht in dem Sinne Stellung nehmen, dass ich als Nichtbeteiligter über die versagenden Verantwortlichen urteile und Forderungen stelle. Diese stehen ja deutlich im Raum. Ich will aber meine persönliche Betroffenheit erzählen, denn natürlich blieben die Erfahrungen der vergangenen Jahre auch mir als Bischof nicht in den Kleidern hängen. Namen von versagenden Verantwortlichen, die jetzt genannt werden, waren für mich viele Jahre, bei aller Distanz, immer auch Persönlichkeiten, die mein Kirchenbild geprägt haben. Kardinal Meisner hat mich zum Priester geweiht, er war jahrelang mein Bischof, auch wenn ich durchaus eine differenzierte Wahrnehmung seiner Amtsführung habe und hatte. Aber wer hat diese gegenüber mir als Bischof nicht? Kardinal Höffner aus Köln war für mich als Jugendlicher eine faszinierende Persönlichkeit. Er, der wegen seines Mutes während der Nazizeit ausgezeichnet wurde, steht heute in der Kritik wegen seines Verhaltens gegenüber Missbrauchsbetroffenen. Auch Bischofspersönlichkeiten sind komplex. Das gilt auch für den emeritierten Papst. Ich denke an den Weltjugendtag in Köln 2005 und die damalige Begeisterung. Es erschüttert durchaus meinen Glauben, wenn auch ich heute wegen des augenscheinlichen Versagens kirchlicher Amtsträger kritisiert werde. Aus dem Stolz, für Jesus Christus unterwegs zu sein, ist bei mir immer wieder auch Scham geworden und der Wunsch, die Erde möge sich unter mir auftun. Es gab Situationen in den vergangenen Jahren, nicht nur im Hinblick auf den Missbrauch, wo ich Scheu hatte, mich öffentlich zu zeigen. Für diese oft versagende Kirche muss ich als Bischof stehen, und das werde ich wohl noch viele Jahre tun. Und selbstverständlich ist das Hauptproblem heute nicht die persönliche Situation des Bischofs. Aber ich will nicht verhehlen, dass ich mir auch Sorgen mache um die vielen Menschen, die jetzt wegen des Versagens in Mithaftung genommen werden und müde sind. Ich will ihnen einfach sagen, dass ich manche kritische, wütende und erschöpfte Äußerung nur zu gut verstehen kann und auch Hilflosigkeit verspüre. Dennoch kann ich vor meiner Aufgabe nicht weglaufen, und ich bin dankbar für die vielen Menschen, die mich und sich gegenseitig im Glauben stützen. Es ist sicher nicht die Zeit der großen Moralpredigten seitens der Kirche, aber es bleibt die Aufgabe, das Evangelium zu leben. Das tun viele, und ich will es mit ihnen tun. Und wir werden an Lösungen arbeiten müssen, den Betroffenen zum Recht zu verhelfen, mit ihnen zusammen und für sie.

Als ich Bischof wurde, kommentierte eine große deutsche Tageszeitung, jetzt kämen die profillosen Bischöfe aus der zweiten Liga. Tatsächlich hätte ich mich als durchaus solider Theologieprofessor nie mit einigen dieser profilierten Personen verglichen. Die großen Bischofspersönlichkeiten der ersten Liga spielten allerdings dort auch nicht vom ersten Tag ihrer Weihe an. Viele Persönlichkeiten aus der sogenannten ersten Liga der Bischöfe sind heute zumindest in ihrem Ansehen angekratzt. Sie können nicht mehr meine Vorbilder sein. Und auch mir wird man in den Jahren in verschiedenen Feldern Versagen oder Ungenügen vorwerfen können. Die Kirche ist mehr als der Bischof. Und Bischöfe bleiben Menschen mit Fehlern. Mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern versuche ich redlich meine Arbeit zu tun, dabei erlebe ich Grenzen, aber ich erlebe auch die Unterstützung vieler, ohne die ich nicht Bischof sein könnte. Ich habe gelernt, dass mein Glaube und meine Liebe zur Kirche nicht an den Menschen in der ersten Reihe und in der sogenannten ersten Liga hängen kann. Mittlerweile scheint es mir auch theologisch gut zu passen, eine ordentliche Arbeit aus der zweiten Liga herkommend zu leisten, es mindestens zu versuchen.

In den Reaktionen auf das Münchner Gutachten wurde die Kirche kritisch kommentiert (z. B. in der AZ vom 22. Januar 2022), und wir müssen uns diese Kritik gefallen lassen und zu Herzen nehmen. Ja, eine Kontrolle der Kirche ist notwendig und findet auch schon statt. Manche Aussagen aus Politik und Rechtswissenschaft will ich aber nicht unkommentiert lassen. So beispielsweise, dass man endlich die Kirche weltlichem Recht unterstellen soll. Ich wundere mich: Natürlich untersteht die Kirche in vielerlei Hinsicht dem weltlichen Recht. Wir unterstehen dem weltlichen Strafrecht, dem Steuerrecht, der rechtlichen Überprüfung unserer Schulen und Kitas und anderen Einrichtungen. Ein Strafrechtsprofessor fordert die Überprüfung kirchlicher Trägerschaften von Kitas und Schulen. Allerdings: In diesen Einrichtungen wird alles für die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen getan. Manche Äußerung hat auch einen durchaus populistischen Zungenschlag. Eltern wählen ja nicht ohne Grund unsere Kitas und Schulen. Vielleicht sollten sie eine derartige Forderung auch einmal kommentieren. Die heftigen Reaktionen auf die Trägerabgabe weniger Schulen im Bistum Mainz zeigen jedenfalls, dass die Eltern die Situation anders einschätzen als der genannte Rechtsprofessor. Der Missbrauch sei keine innerkirchliche Angelegenheit mehr, so eine andere Stimme aus der Politik. Dies ist er längst nicht mehr, es gibt klare Leitlinien, diese kann man nachlesen. Sie werden verbindlich eingehalten. Die Strafverfolgungsbehörden müssten die Fälle innerhalb der Kirche konsequent verfolgen, heißt es. Als Bischof kann ich das nur unterstützen. Wir sind dankbar für jeden Fall, in dem die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Süddeutsche Zeitung vom 22. Januar 2022 weiß jedoch zu berichten, dass dies seitens der staatlichen Gewalt in manchen Fällen nicht geschehen ist, und nicht deswegen, weil die Kirche vertuscht hat. Das kirchliche Recht ersetzt nicht das weltliche Strafrecht. Aber in verjährten Fällen greift das Recht nicht, genauso wie es Beschuldigungen gibt, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Dann steht ein Beschuldigter vor mir, der staatlich nicht verurteilt wurde. Das Kirchenrecht hilft mir, geeignete Disziplinarmaßnahmen zu setzen, die der Staat nicht kennt. Bei verstorbenen Beschuldigten oder Tätern greift das Strafrecht ebenfalls nicht. Eine Verjährung kennt das Kirchenrecht dem Strafrecht gegenüber nicht. Das betrifft einen beträchtlichen Teil unserer Fälle.

Und es gab Stimmen, dass die Kirche es nicht schaffe, die Aufarbeitung zu leisten. Es ist tatsächlich mühselig, auch für die Betroffenen. Die Kritik kommt durchaus an. Aber ich kenne keine Großinstitution, an der ich mich orientieren könnte. Ich musste an die Wahrheitskommissionen in Südafrika denken. Vielleicht wäre so etwas eine Hilfe auch hierzulande. Aber das braucht Zeit. Haben wir die? Ich als Bischof kann nicht warten, bis hier eine Lösungsmöglichkeit gefunden wurde. Und der Staat müsste dann die Betroffenen aller gesellschaftlichen Bereiche in den Blick nehmen, nicht nur die der Kirche. Und dann müssten für alle Betroffenen angemessene Lösungen einer möglichen Befriedung gefunden werden. Wir würden uns, glaube ich, wundern, was dann zutage tritt. Das wäre eine Mammutaufgabe für viele Jahre. Ich lade alle ein, sich auf unserer Homepage regelmäßig über unsere Maßnahmen zu informieren. Es stagniert keineswegs, selbst wenn nicht alles perfekt läuft. Ich kann nur um Vertrauen bitten, und dass wir bei allen Fragen im Respekt voreinander bleiben und weitergehen.