Schutzpatronin unserer Pfarrei:Hl. Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen ist ohne Zweifel eine ganz hervorragende Persönlichkeit ihrer Zeit; sie erweckt bis in unsere Tage nicht nur Bewunderung wegen ihrer tiefgründigen theologischen Bildung und ihres ausgezeichneten Wissens über Menschen und Natur. Vielmehr beeindruckt die Ausstrahlungskraft einer gereiften und in sich ruhenden Persönlichkeit, deren Wort und Wesen überzeugt, wo Hildegard anderen Menschen begegnet.
Hildegard wurde 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert und seiner Gemahlin Mechthild in Bermersheim (bei Alzey) geboren. Von schwächlicher körperlicher Konstitution war sie als Mädchen zugleich von lebhafter Natur und für alles, was sie umgab und erlebte, aufgeschlossen. Ihre Eltern übergaben sie als „Zehentgabe“ dem Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg, wo Hildegard durch die Meisterin Jutta von Sponheim eine gute Erziehung erhielt. Mit etwa 16 Jahren entschloss sie sich aus eigenem Antrieb, ihr Leben als klausurierte Ordensfrau ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Später betont Hildegard einmal die Freiwilligkeit ihres Entschlusses. Mit deutlichen Worten wendet sie sich gegen jede Form von Zwang, der auf einen Menschen im Zusammenhang mit dem Klostereintritt ausgeübt werden kann. Die Entschiedenheit einer solchen Bindung kann für sie immer nur als freie Antwort auf den göttlichen Ruf gegeben werden.
Hier berühren wir die erste Seite der Persönlichkeit dieser Frau, welche den Ton der persönlichen Freiheit erklingen lässt. So wie sie später ihre Klostergründung frei wissen wollte von jeder menschlichen Macht, so kennt Hildegard die Freiheit des Geschöpfes als eines der wichtigsten zu schützenden Güter. Doch vermag sie Freiheit nur zu entdecken und gutzuheißen in der Spannung zur Bindung, was das Gegenteil von mangelnder Entscheidungsfähigkeit und Entschiedenheitswillen ist. Ein höchstes Maß an Freiheit gewinnt der Mensch im Laufe seines Lebens, wenn er sich immer mehr frei macht von irdischen Abhängigkeiten und immer mehr hineinreift in die Freiheit, allein für Gott und seinen Willen dazusein.
Als am 22. Dezember 1136 Jutta stirbt, wählen die Nonnen auf dem Disibodenberg Hildegard im Alter von 38 Jahren zu ihrer Äbtissin. In diesen Jahren tritt bei ihr wieder deutlich jene Gabe auf, die sie nach ihren eigenen Worten seit Kindheit an besitzt: das Charisma der Schau (visio). Wie im Vorwerk zu ihrem Erstlingswerk „Scivias“ (Wisse die Wege) von ihr selbst beschrieben, schaut Hildegard nahezu stets ein „lebendiges Licht“, bei klarem Verstand und wachem Zustand, nicht in Ekstasen, im Schlaf oder geistiger Entrückung. Und in diesem Licht erkennt sie – mit Hilfe der inneren Sinnesorgane –, was Gott sie schauen lässt: das Geheimnis der Dreifaltigkeit, das gewaltige Werk der Schöpfung, die Katastrophe der Ursünde und ihre verheerenden Folgen, das Mysterium der Erlösung durch die Menschwerdung der zweiten göttlichen Person; sie schaut die Kirche, wie Gott sie haben will, und erschauert vor der traurigen Wirklichkeit, wie sich die Kirche in ihrer Zeit den Menschen darstellt.
Immer wieder betont Hildegard, wie sehr sie alles Wissen von Gott bezieht, und nennt sich selbst „ungelehrt“ und „armselig“. Dabei ist das Maß ihrer gesamten Bildung ungeheuer: Sie schöpft ihr theologisches Wissen aus den Quellen der Hl. Schrift, der Liturgie, der Benediktusregel, der Kirchenväter und einiger mittelalterlicher Autoren. Sie trägt in sich das ganze heilkundlichmedizinische und naturwissenschaftliche Wissen ihrer Zeit und komponiert in genialer Weise ein ganzheitliches Welt-, Menschen- und Gottesbild, wo alles in der göttlichen Ordnung seinen Platz, seine Funktion und seinen Sinn erhält. Engel, Welt, Mensch – alles ist mit allem im Gespräch, im liebenden Austausch; so wird Gott allein angebetet und gelobt, und seiner Schöpfung gereicht es zum Heil.
Hildegard aber ist voller Zweifel, ob das Geschaute auch wahr ist oder lediglich die Imitierung durch Trugbilder der eigenen Seele oder des Versuchers. So wendet sie sich, um Klarheit zu bekommen, an Bernhard, den inzwischen allseits geachteten und berühmt gewordenen Abt von Clairvaux, eine Kapazität auf dem Gebiet der Theologie, eine anerkannte Persönlichkeit in Kirche und Welt. Von ihm, dem, „Adler, der in die Sonne blickt“, erhofft sie ein klärendes Wort, das ihr seelische Ruhe verschafft. Und Bernhard antwortet zu ihrer Beruhigung, dass alles, was sie sieht und niederschreibt, vom Heiligen Geist stammt. Und doch ist Bernhard nur eine einzelne, wenn auch kompetente Persönlichkeit. Endgültige Gutheißung, die alle Zweifel beseitigt, erfährt Hildegard auf der Synode von Trier 1147/48, auf der Bernhard sich für die Seherin einsetzt und Papst Eugen III. dem Wort der Prophetin kirchliche Bestätigung und öffentliche Anerkennung verleiht, indem er vor Volk und Klerus aus ihren Werken vorliest.
Hier kommt eine zweite Seite in Hildegards Persönlichkeit zum Schwingen, die ganz zu ihrem Wesen gehört: Die mit einer einmaligen Gabe ausgestattete Seherin und die mit dem Prophetenamt begabte und belastete Frau will ihr Charisma gebunden wissen an die Anerkennung durch die konkrete Kirche, die wiederum in der Gestalt des Papstes, des Stellvertreters Christi, zu ihr spricht. Ihren göttlichen Auftrag als „prophetissa“ stellt sie ganz in den Dienst der Kirche, ja, sie unterstellt alles, was sie sieht, sagt und schreibt, der Approbation durch die kirchliche Institution.
Sie maßt sich nicht in blinder Selbstüberheblichkeit oder in grenzenloser Selbstüberschätzung etwas an, was kein Mensch aus sich heraus kann und darf. Weil allein der Geist Gottes in der Kirche mit all ihren Fehlern wirkt und weht, vertraut sie darauf, dass dieser Geist durch die Kirche und ihre maßgeblichen Autoritäten spricht, und stellt somit ihre persönliche Sendung in der Freiheit des Gehorsams und der Liebe, der paulinischen Freiheit der Kinder Gottes, der kirchlichen Entscheidung anheim.
Durch die rasch wachsende Zahl der Nonnen – Hildegards Ansehen wächst jetzt in steigendem Maße – wird das Kloster auf dem Disibodenberg zu klein und die Äbtissin baut auf dem Rupertsberg bei Bingen, heute Bingerbrück, am Zusammenfluss von Rhein und Nahe, ein neues Kloster, das sie 1150 bezieht. Ihm folgt 1165 die Besiedlung eines leerstehenden Augustinerinnenklosters bei Eibingen auf der anderen Seite des Rheins. Die Anfänge des neuen Klosters sind hart, viele der aus adeligen Kreisen stammenden Ordensfrauen verlassen die Gemeinschaft. Hildegard aber hält mit den ihr treubleibenden Schwestern durch. Sie erkämpft sich gegen den Willen des Abtes Kuno vom Disibodenberg die Freiheit einer eigenen Klostergründung: sie lehnt jeden weltlichen Einfluss auf ihr Kloster ab und lässt sich die Vogtfreiheit von Kaiser Friedrich I. verbriefen; sie setzt beim Mainzer Erzbischof die freie Äbtissinnenwahl für ihre Abtei durch und duldet allein in dessen Person eine geistliche Autorität über das Kloster. Die alte Mutterabtei ist verpflichtet, den Schwestern einen Priester für die geistlichen Belange zur Verfügung zu stellen. In dem Mönch Vollmar erhält Hildegard einen hervorragenden Seelsorger und Mitarbeiter ihrer Werke.
So weiß Hildegard wiederum zwei Gegensätze in eine lebendige Spannungseinheit zu bringen: Sie nutzt ihre gesellschaftliche Stellung und Herkunft aus adeligem Geschlecht im mittelalterlichen Ordnungsdenken und tritt unerschrocken vor weltliche und geistliche Autoritäten, um Rechte und Freiheit für ihr Kloster zu erstreiten. Sie nimmt nur Töchter aus adeligen Kreisen in ihr Kloster auf in der Überzeugung, dass die Ordnung der verschiedenen Stände gottgewollt ist und ihre Aufhebung bzw. Vermischung nur Streit und Unruhe ins Kloster bringt. Zugleich aber setzt sie ihre geistgewirkte Autorität als Prophetin ein, wenn sie Bischöfe an ihre pastorale Aufgabe erinnert, dem Kaiser das Unrecht der von ihm hervorgerufenen Kirchenspaltung vorwirft durch die Einsetzung unrechtmäßiger Päpste, Priestern und Mönchen die Umkehr predigt und allen, auch den Ärmsten unter den Armen, ein offenes Ohr und helfende und heilende Hände bereithält.
Hildegard ist unermüdlich tätig: Ihre verschiedenen Werke, einschließlich ihrer selbstkomponierten und gedichteten geistlichen Werke, nehmen ihre ganze innere Konzentration in Anspruch; in unzähligen Anliegen und Nöten soll sie Rat und Antwort geben durch eine umfassende briefliche Korrespondenz. Viele Male zwischen 1163 und 1173 ist sie auf Predigtreisen und besucht Klöster: bei ihrer Mainfahrt bis hinauf nach Bamberg; durch das Moseltal bis nach Lothringen; auf der Reise den Rhein entlang bis über Köln hinaus und schließlich Besuche in Klöstern bis nach Schwaben.
Eine Frau des 12. Jahrhunderts, die in der Öffentlichkeit predigt und auch vor den Klerikern kein Blatt vor den Mund nimmt; eine Frau, die mit prophetischem Anspruch nach dem Vorbild eines Ezechiel Umkehr und Buße fordert von Hoch und Niedrig in Kirche und Gesellschaft; eine gebrechliche und kränkliche Frau, die vor dem Auftrag Gottes oft erschrickt, sich diesem Auftrag verweigert und todkrank wird, bis sie wieder Genesung findet aus der Bereitschaft heraus, den Auftrag doch zu erfüllen; eine Frau, die sich mit einer Feder vergleicht, die der Wind in die Luft pustet und wieder fallen lässt (ein Bild für den Atem Gottes und sein Umgang mit ihr) und die zugleich die „weibischen“ Verhältnisse ihrer Zeit geißelt, in der keine Glaubenskraft die Menschen zu retten und heilen vermag; eine Frau, die hochbetagt den Konflikt mit der kirchlichen Autorität nicht scheut und den Mut besitzt, lieber eine ungerechte Strafe (Interdikt) auf sich zu nehmen, als ihrem persönlichen Glauben nicht zu folgen.
Als Hildegard von Bingen in der Nacht zum 17. September 1179 stirbt, erlischt ein Leben, das aus Gegensätzen lebte und sich in Spannungseinheiten verzehrte; doch zugleich erstrahlte im „Schatten des lebendigen Lichtes“ ein Leben, das durchsichtig bleibt auf Gott hin und somit Maßstäbe setzt auch für unsere Zeit.
Wie ist dieses Leben zu verstehen? Ein sicher unvollständiger, torsohafter Versuch einer Deutung, eine Andeutung sei zum Schluss gewagt.
Hildegard von Bingen ist nur zu verstehen aus ihrer glühenden Gottesbeziehung, in ihrer brennenden Liebe zur konkreten Kirche und durch ihre tiefe Verbundenheit, ihr Einsfühlen mit der gesamten Schöpfung.
In ihr ist durchgebrochen und zum Leben erweckt jene lebendige, göttliche Grundkraft, die sie „viriditas“ (Grünkraft) nennt, die allem, was ist, Sein und Leben gibt, in der alle anderen Gotteskräfte gebündelt in den Menschen einströmen und als Tugend (Tauglich sein!) die Antwort des Menschen auf Gottes Anruf bauen. In ihr ist uns ein konkretes, lebendiges Beispiel geschenkt, was als Gesetz den gesamten Kosmos durchwaltet. Die Schöpfung lobt den Schöpfer durch ihr Dasein; der Mensch gibt diesem Lob bewusst Form und Gestalt und wirkt, gebrochen durch die Sünde und erlöst durch die Menschwerdung, in der Kraft des Heiligen Geistes mit am Werk Gottes; er ist und bleibt, von seiner Beschaffenheit wie von seinem Anspruch her, Mitarbeiter Gottes (Co-operator!).
Hildegard lässt diese Kräfte und Möglichkeiten in sich zur Entfaltung kommen. Sie liebt die Kirche, deshalb setzt sie sich für sie ein; sie leidet an ihren Fehlern und kämpft für ihre Erneuerung; sie empfängt aus ihr die göttliche Gnade in den Sakramenten und hält ihr in Wort und Tat zugleich einen Spiegel vor Augen. Sie verlässt die Kirche nicht wie ein sinkendes Schiff, sondern steigt ein in ein menschgewordenes Haus, um nicht durch Kritik von außen (wie die Sekte der Katharer), sondern durch Reform von innen das Gebäude aus lebendigen Steinen zu erneuern. Sie nutzt die „Schwäche“ einer Frau durch Einfühlungsvermögen in den Willen Gottes und in die Notwendigkeiten konkreter Handlungen, und sie baut auf die „Stärke“ einer Frau, wenn sie den männlichen Amtsträgern ins Gewissen redet und ihnen, unabhängig von Lob und Tadel der Menschen, Versäumnisse vorwirft und Umkehr predigt. Sie ist einzig und allein auf Gott ausgerichtet in der Kontemplation des benediktinischen Lebensstils und im Hören auf Gottes Wort; so wird sie aufs Höchste aktiv, wenn es um die Belange und Nöte von Menschen geht, ohne sich im vordergründigen Aktivismus zu verlieren.
Sie lebt die weiblichen Eigenschaften in einer Form ganz und gar aus und vereinigt sie mit den männlichen Anteilen ihres Thema Foto: Markus Lerchl Wesens: die Leidenschaft ihrer Liebe lässt sie leiden, schwach und hilflos sein, macht sie empfänglich und offen; zugleich gibt diese Liebe ihr die Kraft zu geistlicher Fruchtbarkeit, mütterlicher Wärme, kämpferischer Entschlossenheit und mutigen Taten.
Hildegard von Bingen hat als Frau ihren Platz in der Kirche gefunden; nein besser: Sie lebt als Frau der Kirche.
Papst Benedikt XVI. hat am 7. Oktober 2012 den spanischen Priester Johannes von Avila und die deutsche Äbtissin Hildegard von Bingen zu Kirchenlehrern erhoben. Zuvor hatte er am 01. Mai 2012 verfügt, dass die liturgische Verehrung der heiligen Hildegard von der Universalkirche anerkannt und ihr Name in das Verzeichnis der Heiligen aufgenommen wird. Dieser Akt war notwendig, da die Äbtissin vom Rupertsberg offiziell nie heiliggesprochen worden war. Ein entsprechendes Verfahren nach ihrem Tod verlief, trotz mehrfacher Mahnungen von Seiten des Papstes, im Sand. Doch vom Volk wurde Hildegard seit „unvordenklichen Zeiten“ als Heilige verehrt und angerufen. Seit 1947 wird ihr Fest offiziell in allen deutschen Diözesen gefeiert. Eine formelle Heiligsprechung nach so vielen Jahrhunderten war damit unnötig. Doch müssen auch auf Hildegard von Bingen für die Erhebung zur Kirchenlehrerin jene vier Kriterien Anwendung finden, die in einer zusammenfassenden Festlegung durch Papst Benedikt XIV. 1741 erstellt wurden:
(1) Die betreffende Person zeichnet sich aus durch die Heiligkeit ihres Lebens.
(2) Sie hat auf dem Gebiet der Theologie eine hervorragende Lehre verkündet.
(3) Ihr theologisches Werk stimmt überein mit der Heiligen Schrift, dem orthodoxen Glauben und der Lehre der Kirche.
(4) Schließlich muss der Papst dieser Person den Titel „Kirchenlehrer“ in einem offiziellen Akt verleihen.
Mit der Verleihung dieses Titels an Johannes von Ávila und Hildegard von Bingen gibt es in der katholischen Kirche insgesamt 35 Kirchenlehrer, vier davon sind Frauen. Papst Paul VI. hatte 1970 in Katharina von Siena (1347 – 1380) und Theresia von Ávila (1515 – 1582) erstmals zwei Frauen zu Kirchenlehrerinnen erhoben. Papst Johannes Paul II. verlieh 1997 diesen Titel der französischen Karmelitin Theresia vom Kinde Jesus (1873 – 1897). Bisher einziger Deutscher unter dieser Gruppe der Heiligen ist der Dominikaner und Bischof von Regensburg, Albert der Große (1193 – 1280), Lehrer des berühmten Thomas von Aquin; er wurde 1931 anlässlich seiner Heiligsprechung durch Papst Pius XI. gleichzeitig zum Kirchenlehrer erhoben. Mit Hildegard von Bingen (1098 – 1179) erhält die erste deutsche Frau diese besondere Wertschätzung ihrer theologischen Lebensleistung durch die Kirche.