Auch wenn es historisch nicht gesichert ist, dass die Schiffskapelle beim Untergang der Titanic „Näher, mein Gott, zu dir“ gespielt hat, ist das doch ein weit verbreiteter Mythos, der das Lied über die Kirche hinaus bekannt gemacht hat. Die Nummer 502 im Gotteslob stammt aus England und gewann in den USA eine breite Popularität. Der Text ist eine dichterische Umsetzung des Jakobstraums von der Himmelsleiter (Genesis 28).
Der junge Jakob, der später den Namen Israel bekommen und Vater der zwölf Stämme werden soll, legt sich während seiner Flucht auf einem Stein zum Schlafen und träumt von einer Leiter bis in den Himmel, auf der die Engel hinauf- und herabsteigen. Am oberen Ende steht Gott und verheißt Jakob seinen Schutz. Der Erwachte richtet den Stein auf und nennt den Ort Bet-El, Haus Gottes. Beim Singen schlüpft man in die Rolle Jakobs, der am Ende eines schweren Weges ein leuchtendes Ziel findet.
Die Londoner Schriftstellerin Sarah Flower Adams verfasste den Originaltext 1840, im folgenden Jahr druckte ihn William Johnson Fox in der Sammlung „Hymns and Anthems“ für seine unitarische Gemeinde im Londoner Stadtteil Finsbury. Das Lied verbreitete sich schnell und wurde anfangs mit zwei verschiedenen Melodien verbunden, „Horbury“ von John Bacchus Dykes und „Bethany“ von Lowell Mason, dem Vater der amerikanischen Kirchenmusik.
Mason nutzt darin nur ein geringes melodisches Material, das in Wiederholung und leichter Abwandlung immer wieder vorkommt. So entsteht eine Innigkeit, die sich mit einem gewissen Pathos durch den harmonischen und rhythmischen Aufbau wirkungsvoll verbindet. Diese Fassung setzte sich durch und fand in England und den USA Eingang in unzählige Gesangbücher vor allem protestantischer Prägung. Manchmal wurde der Text variiert, um zur theologischen Ausrichtung der jeweiligen Kirche zu passen.
Das Lied formuliert das Paradox, dass man Gott gerade in schweren Prüfungen näher kommen kann. Vielen Menschen wurde es ein wichtiger Teil ihre Glaubens und Trost in schwierigen Situationen. Der amerikanische Präsident William McKinley zitierte aus der ersten Strophe, nachdem er bei einem Attentat tödlich getroffen worden war.
In den verschiedenen Einwanderergruppen der USA fanden Übersetzungen in ihre Sprachen statt. Oft gab es mehrere Versionen, mal näher am Original und mal stärker umgedichtet. Die deutsche Fassung im Gotteslob, die einen Mittelweg geht, stammt von Erhard Friedrich Wunderlich: Der 1853 ausgewanderte Thüringer Methodist lernte das Lied in Amerika kennen, seine Version wurde zuerst 1875 in Basel gedruckt. Bis zur Aufnahme in das neue Gotteslob waren es im katholischen Bereich vor allem Gemeinden in Süddeutschland und Österreich sowie unter den Donauschwaben, die das Lied sangen.
Es gibt allerdings auch Kritik, dass die deutsche Fassung nicht die poetische Tiefe des Originals erreicht. Angelehnt an die Jakobsgeschichte, ist der englische Text komplett als Schilderung eines Traums gehalten. Auch ist das Original freier und freudiger gestaltet, mehr auf Ermutigung ausgerichtet als auf „Kreuz und Pein“ wie im Deutschen. Dies ist wohl ein Grund, weshalb das Lied bei uns nie die gleiche Bedeutung erlangen konnte wie in den USA.
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!
Drückt mich auch Kummer hier, drohet man mir,
soll doch trotz Kreuz und Pein dies meine Losung sein:
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir.
Nearer, my God, to thee, nearer to thee,
e'en though it be a cross that raiseth me!
Still all my song shall be, nearer, my God, to thee;
nearer, my God, to thee, nearer to thee!