Bei Predigten sagt einer was, und alle anderen hören zu – hoffentlich. Predigten sind noch kein Gespräch. Eine Predigt kann in den Hörern etwas anstoßen, etwas in Bewegung bringen. Wenn ein Hörer / eine Hörerin mich auf eine Predigt anspricht und sagt: „Was sie da gesagt haben, das ist mir lange nachgegangen.“ Und ich zurückfrage: „Was hat Sie denn so angesprochen?“ Dann kommt in vier von fünf Fällen ein Satz, den ich gar nicht gesagt habe. Ein Satz, der aber gut ist. Da habe ich anscheinend etwas angestoßen mit einem Wort oder einem Bild, die Person angeregt zu einem ganz eigenständigen, ganz persönlichen Gedanken oder Impuls.
Am vergangenen Sonntag habe ich ein Thema angeschnitten. Es sollte den Einstieg bilden in einen Austausch von vielen. Denn das Thema ist komplex. Da braucht es die Meinungen und vor allem die Lebenserfahrungen von ganz vielen Menschen. Denn es geht um das Abwägen bei tausend ganz praktischen Fragen. Und es geht um etwas Grundsätzliches, und das Wichtigste überhaupt: die Würde jedes Menschen. Deshalb habe ich am Ende des Gottesdienstes eingeladen, mit mir per mail in einen Austausch zu treten.
Unfassbar viele Menschen haben mich bei meinem Wort genommen. Aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, aus Rom, aus den USA und aus Brasilien wurde gemailt, kam Papierpost, kamen Telefonanrufe. Aus unseren sechs Weinorten hier erhielt ich viele WhatsApp-Nachrichten. Ich wurde auf der Straße angesprochen. Es sind sowohl katholische und evangelische Christen als auch Menschen, die von sich schreiben nicht religiös zu sein. Es sind Verantwortliche der beiden Kirchen und Verantwortliche in der Politik, die aktuell viel zu entscheiden haben. Und es sind sogenannte einfache Menschen, die nur für sich selbst entscheiden können. Es sind Menschen aus unterschiedlichen Berufen und in unterschiedlichen Lebensphasen. Das bietet mir die Gelegenheit, Ihnen zuhause davon zu berichten.
Alle, die zum eigentlichen Thema schreiben oder anrufen, akzeptieren die Würde des Menschen als Maßstab für das Vorgehen gegen das Corona-Virus.
Politiker berichten mir von ihrem persönlichen Abwägen in den Krisenstäben. Sie erzählen, wie sie ihre ethischen Maßstäbe einbringen in die Entscheidungen, die jeden Tag neu zu hinterfragen sind. Sie sagen mir, dass ich sie mit meinen Worten sehr verletzt habe. Denn die unterstellten ihnen öffentlich, sie würden nicht abwägen und sie würden nur den virologischen Aspekt berücksichtigen.
Ausnahmslos alle Menschen ohneeine politische Verantwortung schreiben, sie würden die Abwägung des Staates nicht oder nicht ausreichend erklärt bekommen. Das Interview Ende April von Bundestagspräsident Schäuble wird als Vorbild genannt, in welche Richtung sie sich Aussagen wünschen.
Politiker haben mir geschildert, wie sie abwägen. Es weiß aber kaum einer. Das ist ein Problem: Es fehlt eine transparente und einfach verständliche Begründung der Maßnahmen. Es kommt bei den Menschen nur die virologische Begründung an. Das ist meiner Ansicht nach eine Ursache für die aktuellen Proteste.
Ein Anliegen vom letzten Sonntag teilen alle Schreiber und Schreiberinnen: Sie wünschen sich eine Hilfestellung der beiden Kirchen für ein ethisches Abwägen bei Corona-Maßnahmen. Wohl hat der Deutsche Ethikrat am 27. März eine Stellungnahme herausgegeben. Daran beteiligt waren auch kirchliche Vertreter. Aber sie wird von denen, die sie gelesen haben, als sehr abstrakt empfunden.
Ein Wunsch war, dass eine ökumenische Gruppe von Moraltheologen ethische Kriterien erarbeitet für die Abwägung von Corona-Maßnahmen. Diese - nennen wir sie „ethische Corona-Regeln“ – sollen aber bitte nicht in wissenschaftlicher Theologensprache verfasst sein, sondern in heutigem Deutsch, verständlich! Die Umsetzung wird schwer genug sein in die jeweilige Situation von Kindergarten, Schule, Einzelhandelsgeschäft, Werkstatt, Büroarbeitsplatz, Krankenhaus, Altersheim und so weiter. Mancher wünscht sich eine Verstärkung solcher ethischen Corona-Regeln, indem ein Bischof sie der Gesellschaft in seinem Gebiet ausdrücklich empfiehlt.
Soviel aus den Rückmeldungen zum Thema „Beitrag der Kirche für die Gesellschaft“. Das Zweite waren die Meinungen zum Thema „Corona-Maßnahmen bei der Sakramentenspendung“.
Natürlich hat sich die Bistumsleitung bei mir gemeldet. Sie hat mir geschildert, wie sie im Krisenstab ständig abwägt, bei welchen Themen die Vertreter der Kirche mit der Landesregierung um kleine und große Einzelthemen ringen. Auf ein persönliches Schreiben an die kirchlichen Mitarbeiter wurde hingewiesen, in dem das Ringen beschrieben wurde. Sie zeigen sich sehr von mir verletzt. Denn sie haben meine Worte als eine öffentliche Unterstellung wahrgenommen, sie würden dem Staat gegenüber die Belange ihrer Kirchenmitglieder nicht offensiv genug vertreten. Damit haben sie Recht. Ich entschuldige mich ausdrücklich dafür. Ich habe allerdings eingebracht, dass bei den Leuten von diesem tatsächlichen Ringen zwischen Kirche und Staat um die beste Lösung nichts angekommen ist.
Eine sehr berührende mail habe ich von einem alten Herrn erhalten: Er lebt in einem Altersheim. Die Eucharistie ist seine Kraftquelle. Er schreibt, dass er seit zwei Monaten nicht mehr die Kommunion empfangen hat. Auf seine Frage weshalb, wird ihm gesagt, dass das ein Risiko für seine Gesundheit darstellen würde. Das versteht er nicht. Ein Leben lang hat die Kirche ihn darin bestärkt, eng mit Christus zusammen zu leben. Und jetzt wird ihm gesagt, er erhält die Begegnung mit Christus in dessen Leib nicht – weil seine eigene körperliche Gesundheit Vorrang habe. Das sagt ihm nicht der Arzt, der vielleicht kein Christ sein mag. Das sagt ihm sein Pfarrer. Da bricht ein Weltbild zusammen. Dann wurde ihm zusätzlich – nicht vom Pfarrer selbst – gesagt, auch der Pfarrer würde ein Risiko eingehen, wenn er käme. Der Mann schreibt, die Priester wären in Pestzeiten zu den Kranken gegangen, hätten sich angesteckt, wären gestorben und dann heilig gesprochen worden. Ob Priester jetzt nicht mehr heiliggesprochen werden sollen. Das ist seine Verzweiflung. Er schreibt, dass ihm der Hinweis wenig helfe, dass Christus auch ohne den Kommunionempfang bei ihm sei. Er will Christus erleben, so wie er ihn ein Leben lang beim Empfang der Kommunion bei sich gespürt hat. Hier ist ein existentielles Problem genannt. Dieser Mann hat von der Kirche keine Begründung bekommen, die er nachvollziehen kann.
Andere Seelsorger telefonieren mit alten Menschen und geben ihnen am Ende übers Telefon den Segen. Sie nennen kreative Ideen, wie Angehörige der Pfarrgemeinde Zeichen der Zuwendung in die Altersheime geben, - geschrieben, gemalt, gebastelt, z.B. von Kindern, die zuhause sind.
Ein katholischer Klinikseelsorger: Er berichtet mir von dem großen Einsatz der pastoralen Mitarbeiter bei Corona-Kranken. Er verbittet sich einen Vorwurf, Kirche mache nichts für Klinikpatienten, die gläubig sind.
Andere Seelsorger haben einen Vorschlag gemacht: Eine Gruppe von Pastoraltheologen, Liturgikern und Pfarrern erarbeitet Kriterien zur Sakramentenspendung in diesen Zeiten, - wann sie angebracht ist und wie sie praktisch gehandhabt wird. Als Hilfe für Seelsorger.
Von Pfarrern wurde ich kritisiert, dass ich pauschal sage, die öffentlichen Gottesdienste seinen unter den vorgegebenen Regeln nicht sinnvoll umzusetzen. Sie haben mir kreative Gestaltungen beschrieben, wie es doch geht. Ich finde die Ideen gut. Und die beiden Pfarrgemeinderäte von Planig und von Hackenheim haben beschlossen, dass wir ab kommenden Sonntag um 11 den im Internet übertragenen Gottesdienst für alle öffnen.
Eine wichtige Erfahrung für mich war die Reaktion meiner Vorgesetzten. Sie sind alles andere als einverstanden mit den Vorwürfen, die ich in der vergangenen Predigt erhoben habe. Verärgert ist da zu wenig gesagt. Aber wir haben ein offenes und faires Gespräch miteinander geführt. Das freie Wort in der Kirche ist erlaubt. Das erlebe ich. Es soll nur in allen Punkten korrekt und hilfreich sein. Und meine Polemik war schon scharf.
Eine Provokation und ein polemischer Angriff macht eine Ansprache zwar spannend und verschafft Aufmerksamkeit, aber sie riskieren, unfair und falsch verstanden zu werden. Genau das habe ich ausgelöst. Das tut mir sehr leid und belastet mich seitdem.
Ich habe bereits am Tag danach, also am vergangenen Montag, vollkommen frei aus eigenem Entschluss das Video und den Text der Predigt von unseren beiden Homepages genommen. Sie wurden von Kreisen genutzt, die nicht meine Ziele verfolgen. Seit eine Homepage in Österreich den Text brachte und den link auf das Video anfügte, erreichten mich Hassmails. Hassmails nicht gegen meine Person. Ganz das Gegenteil: Ich wurde überschwänglich gelobt von Leuten, die in der gleichen mail gegen Papst Franziskus schrieben, gegen deutschsprachige Bischöfe, gegen Professoren und Professorinnen der Theologie an den Fakultäten, gegen Christen anderer Prägung. Wobei „schreiben“ das falsche Wort ist. Das waren aggressive Ausbrüche in vulgärer Sprache ohne jeden Respekt für die Angegriffenen.
Ich hatte etwas zur Würde des Menschen gesagt. Und hier wurde ich in Menschen unwürdiger Sprache gelobt für einen Kampf gegen Papst, Bischöfe und Theologen.
Ich kannte sie noch nicht, fundamentalistische Katholiken. Gotteskrieger und Gotteskriegerinnen voller Häme, Herablassung und negativer Energie. Den Geist Gottes hörte ich nicht aus ihnen, sondern das Gegenteil.
Die Polarisierung in der Kirche und in der Gesellschaft ist erschreckend. Es scheint nur noch zwei Meinungen zu geben, keine Vielfalt. Schwarz oder weiß? Ja oder nein? Sind Sie für oder sind Sie gegen die Lockerungen, wurde ich gefragt. Ich hab geantwortet weder noch. Mir fehlt eine Abwägung, um eine Meinung haben zu können. Das fordere ich ein: die Abwägung. Und nun hab ich selbst beigetragen zu einer weiteren Polarisierung.
Als letzte Wortmeldung der vielen, die ich erhalten habe, nenne ich einen Pfarrer, der mir schrieb, mein Titel sei doch theologisch falsch. „Ich vermisse meine Kirche.“ Das wecke den Eindruck, allein der Papst, die Bischöfe und die Theologen seien die Kirche. Als Getaufter und Gefirmter sei ich doch selbst Kirche. Also könne ich die Kirche gar nicht vermissen. Ein sehr guter Gedanke, der mir und anderen weiterhilft. Nicht auf oben oder andere zeigen, sondern selbst so Kirche sein, wie es meiner Überzeugung entspricht!
Aber ich hoffe, die meisten haben die Überschrift, die ich selbst jetzt als unzutreffend erkannt habe, trotzdem verstanden. Es ist der Wunsch nach einem klaren Wort in einer schwierigen Zeit, einem Wort, das aufbaut und weiterhilft.
Dr. Georg Rheinbay, Pfarrer