Schmuckband Kreuzgang

Pfarrer Göttles Wort zum 23. Sonntag im Jahreskreis 2021

Datum:
Sa. 4. Sept. 2021
Von:
Pfarrer Rudolf Göttle

Die Menschen sind eigentlich immer auf der Suche nach „heil“(-Werden), wo auch immer sich Unbalancen, Beschränkungen und Defizite zeigen. Die Frage ist: Wie geht das?

Zur 1. Lesung (Jes 35, 4-7a)

Der Prophet Jesája gehört zu den vier „großen“ Propheten des Alten Testaments und wirkt in der Zeit zwischen 740 und 701 v. Chr.. Im heutigen Abschnitt beschreibt er, woran der (von ihm) verheißene Messias zu erkennen ist, und zwar an der Aufhebung der un-heilen Verhältnisse bzw. Beeinträchtigungen: Die Ängstlichen schöpfen (durch den Messias / seine Botschaft) Mut, Kraft und Hoffnung und erfahren (göttliche) Gerechtigkeit. Der Blick der Menschen auf das, was sie bisher nicht sehen konnten / wollten, wird geöffnet, geweitet. Durch den Messias hören die Menschen seine Botschaft und können dadurch verstehen, was der eigentliche Auftrag jedes Menschen ist (zu teilen, zu vergeben, Gutes zu tun, Frieden zu stiften etc.). Von Trägheit und Mutlosigkeit Bedrückte entwickeln wieder Lebenskraft und –freude. An und durch Leid Verstummte finden wieder Worte und Ziele. Menschliche „Verödungen“, v.a. Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, können zu „Quellen“ transformiert werden, wenn wir erkennen, wie viel Gemeinschaft, Hilfs- und Unterstützungspotential in solchen Erfahrungen steckt.

Welch wundervolle Zusammenfassung des Heilswirkens und –willens Jesu schon 700 Jahre vor seiner Geburt!

Lesung aus dem Buch Jesája:

„Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung; er selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe. Der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu sprudelnden Quellen.“

Zur 2. Lesung (Jak 2, 1-5)

Wenn wir Christen davon überzeugt sind, dass Gott alle Menschen gleich liebt, dann müssen wir selbst auch so mit ihnen umgehen. Den Schönen, Mächtigen und (in welcher Weise auch immer) „Höher“-Stehenden mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung zu geben, ist ein Widerspruch zur Botschaft und dem Leben Jesu! Deswegen unterstreicht Jakobus das im heutigen Abschnitt aus seinem Brief: „haltet den Glauben … frei von jedem Ansehen der Person“ (Vers 1)! Seine Begründung ist keine Widerspruch zur „gleichen“ Liebe Gottes zu allen Menschen, wenn er in Vers 5 sagt, dass Gott die Armen auserwählt hat, „um sie durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen, dass er denen verheißen hat, die ihn lieben“, es verdeutlicht meines Erachtens zweierlei: Der Glaube an Jesus Christus ist allen Menschen möglich, unabhängig von ihrer Persönlichkeit, ihren Erfahrungen und ihrem sozialen Status. Durch den Glauben soll / kann ja jeder Mensch dann erkennen, welche persönliche Verantwortung er in Bezug auf Hilfsbereitschaft, Unterstützung und Gemeinschaft für andere Menschen hat (vgl. 1 Kor 12, 7: „Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“!). Vielleicht ist es aber de facto so, dass die, die leiden und sich nach einem besseren Leben sehnen, dass die Bedürftigen („Armen“) auch offener und suchender sind nach „Heil“, nach Zuspruch, Wertschätzung und Bedeutungswandlung, als die „Satten“, die vielleicht oft ihre Heil-Losigkeit gar nicht mehr wahrnehmen. Daher hat Jesus – nach dem Zeugnis der Evangelien – vor allem Menschen angesprochen, die aus sozial-benachteiligten Gruppen kommen.

Was ist in meinem Leben un-heil?

Lesung aus dem Jakobusbrief:

„Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit, frei von jedem Ansehen der Person. Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt, und zugleich kommt ein Armer in schmutziger Kleidung, und ihr blickt auf den Mann in der prächtigen Kleidung und sagt: Setz dich hier auf den guten Platz!, und zu dem Armen sagt ihr: Du kannst dort stehen!, oder: Setz dich zu meinen Füßen! – macht ihr dann nicht untereinander Unterschiede und fällt Urteile aufgrund verwerflicher Überlegungen? Hört, meine geliebten Brüder und Schwestern: Hat Gott nicht die Armen in der Welt auserwählt, um sie durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen, das er denen verheißen hat, die ihn lieben?“

Aus dem heiligen Evangelium nach Markus (Mk 7, 31-37):

In jener Zeit „verließ Jesus das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden. Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.“

Liebe Schwestern und Brüder, das ist ja schon eine recht eigentümliche Geschichte, die wir gerade gehört haben, oder? Und wie umständlich: Da bringen sie einen Taubstummen zu Jesus, wie sie schon viele Kranke zu ihm gebracht haben, damit er sie heilt. Aber was macht Jesus? Er nimmt ihn zuerst beiseite, dann legt er dem Mann die Finger in die Ohren und berührt seine Zunge mit Speichel. Dann blickt er zum Himmel und seufzt, um dem Kranken danach dieses „Èffata! Öffne dich!“ zuzusprechen. Wozu der Umstand? Er hätte ihm doch gleich das Wort sagen können, dass ihn von seiner Behinderung befreit? Aber es ist nicht nur das Wort Jesu, das die Heilung bewirkt, sondern alles, was hier beschrieben wird, scheint not-wendig zu sein. – Wenn ein Mensch taubstumm ist, kann er demnach nichts hören und nicht sprechen. Was er aber wahrnehmen kann, ist Sehen, Fühlen, Riechen und Schmecken. Jesus nimmt also so mit dem Mann Kontakt auf, wie dieser das auch wahrnehmen und verstehen kann, und er berührt ihn an den Stellen, wo die Behinderung ist: An den Ohren und auf der Zunge. Der Mann weiß also, um was es jetzt geht: Es geht um die Sachen, die nicht in Ordnung sind und geheilt werden müssen oder können. Aber die Heilung erfolgt noch nicht gleich. Jesus schaut gen Himmel und seufzt, was wir so verstehen können, dass er betet, bewusst Kontakt aufnimmt mit der Kraft Gottes. Erst jetzt kann diese Kraft Gottes durch Jesus zu dem Mann fließen. Ob der dann dieses „Èffata, öffne dich!verstanden hat, von den Lippen abgelesen oder einfach in seinem Herzen begriffen, was jetzt noch fehlt, das wissen wir nicht genau, auf jeden Fall hat es funktioniert. Und weil es so umständlich beschrieben ist, müssen wir davon ausgehen, dass sich das nicht nur tatsächlich so abgespielt hat, sondern wohl generell gilt: So geht Heilung! – Haben Sie das schon mal erlebt, dass etwas geheilt wurde, oder konkreter: dass sie etwas verstehen konnten, was Sie vorher nicht verstanden haben, dass Sie etwas sagen konnten, wo Sie vorher stumm waren und es nicht gesagt haben? Die Geschichte zeigt uns, was wir dafür brauchen: Als erstes brauchen wir dafür Menschen, die uns nahe sind, die merken, dass etwas nicht in Ordnung ist, und die etwas tun, damit wir etwas tun. In der Geschichte heißt es nur: „Man brachte einen Taubstummen zu Jesus“ (Vers 32). Ob das seine Idee war oder nicht, scheint nicht wichtig, Hauptsache wir stellen uns unseren Nöten und bewegen uns! Da so etwas ja immer auch mit Scham zu tun hat, ist es wohl ebenso wichtig, dass das nicht in der Öffentlichkeit passiert, Jesus nahm den Mann „beiseite“ (Vers 33). Und wie dann Heilung geht, das haben wir schon gehört: Die Nähe, die Berührung muss dahin, wo es weh getan hat, d.h. ich muss meine Schwäche zeigen und von anderen berühren lassen, natürlich von denen, die mir von Herzen gut wollen und nicht noch mal draufschlagen. „Berühren“ kann da schon heißen, dass meine Lieben / Vertrauten etwas dazu sagen dürfen, zu dem, worunter ich leide, dass die vielleicht auch etwas tun dürfen, damit sich das verändert, weil die mich anders / besser kennen. Offensichtlich braucht es dafür aber auch eine Kraft von oben, einen Glauben, dass das nicht nur mein Wunsch ist, sondern vielmehr ein Auftrag: Helft euch, steht euch bei, lasst andere nicht in ihren alten Bildern und Verletzungen allein, sondern lasst sie im Heute ankommen, mit neuen Wahrnehmungen, neuen Ideen, mit einer neuen Hoffnung und einem (neuen) Glauben, gerne auch in dem Sinne: Was glaubst du denn, wie Gott dich sieht? – Verletzungen und alte Wunden gehen dadurch nicht weg, aber sie können heilen, wenn ich sie mit Menschen teile, die mir dabei helfen wollen, und eine Kraft „von oben“ miteinbeziehe, d.h. einen Gott, der sich genau das wünscht: „Öffne dich! Für Nähe, Berührung, Gemeinschaft, und dadurch für ein neues Leben mit dieser alten Wunde, die jetzt vernarben kann“! – Was ist wohl aus dem Taubstummen geworden, den Jesus geheilt hat? Wie bei vielen Heilungsgeschichten wissen wir es nicht. Ich habe es mir aber immer so vorgestellt, dass er sehr geweint hat, und nicht erst, als er geheilt war, sondern auch schon, weil und als Jesus ihm so nahe kommt und ihn dort berührt, wo die Not am größten ist. Ich glaube, dass Tränen ein wesentlicher Teil von Trauer sind, dass auch sie not-wenig sind, um alte Verletzungen und Beeinträchtigungen hinter sich zu lassen, um wieder Platz für Hoffnung und Freude (im Heute) zu haben, Tränen waschen somit die Wunden „aus“, damit diese sich schließen können.

Wir alle haben in unserem Leben Enttäuschungen und Leid erfahren, es hat vielerlei seelische Wunden gegeben, die einen sind besser verheilt, d.h. wir spüren es kaum noch oder gar nicht mehr, dass da mal etwas weh getan hat, andere Wunden schmerzen, d.h. behindern immer noch. Wir sind uns – gerade auch nach dem heutigen Evangelium – gegenseitig auf den Weg unseres Lebens gestellt, um vor allem auch das miteinander zu teilen. Gebe Gott uns den Mut, dass wir das zeigen, wonach wir uns sehnen, und wir anderen helfen, Wege aus ihren Verletzungen zu finden.

Hier noch mal die Abfolge von Heilung (nach Mk 7, 31-37):

  1. Bitte / Wunsch / Verlangen nach Heilung / anders werden,
  2. nicht vor anderen Menschen / es braucht Privatsphäre,
  3. es braucht Berührung (= andere an mich heranlassen),
  4. es braucht Gottvertrauen / Gebet / Bitte um göttliche Kraft,
  5. es braucht Öffnung / Zuspruch / Auftrag = Willen, als neuer Mensch leben zu wollen!