Schmuckband Kreuzgang

Pfarrer Göttles Wort zum 3. Sonntag im Jahreskreis 2022

Datum:
So. 23. Jan. 2022
Von:
Pfarrer Rudolf Göttle

Pfarrer Göttles Worte zum 3. Sonntag im Jahreskreis

Zur 1. Lesung (Neh 8, 2-4a.5-6.8-10)

Der Prophet Nehemía ist ein Nachfahre von Hebräern, die während des Babylonischen Exils (587-539 v. Chr.) verschleppt wurden, jedoch nach der Befreiung nicht wieder nach Palästina zurückgekehrt sind, sondern (erst einmal) in Babylon bleiben. Nehemía hat in der Zeit Karriere am persischen Hof gemacht und ist Mundschenk von König Artaxerxes geworden (vgl. Neh 1, 11). Durch diese Vertrauensstellung gelingt es ihm, dass der König ihn mit dem Wiederaufbau des zerstörten Jerusalems beauftragt (vgl. Neh 1, 5f.), dessen Statthalter er dann auch wird (vgl. Neh 5, 14). In der folgenden Lesung hören wir, dass der ebenfalls von Artaxerxes gesandte (Priester zur Wiederherstellung des jüdischen Gottesdienstes in Jerusalem) Esra (auch Mitte des 5. Jh. v. Chr.) unter großer Anteilnahme des (heimgekehrten) Volkes (erstmals wieder?) einen Gottesdienst feiert.

Lesung aus dem Buch Nehemía:

In jenen Tagen „brachte der Priester Esra das Gesetz vor die Versammlung; zu ihr gehörten die Männer und die Frauen und alle, die das Gesetz verstehen konnten. Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, das Gesetz vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch des Gesetzes. Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz, die man eigens dafür errichtet hatte. Esra öffnete das Buch vor aller Augen, denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den Herrn, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem Herrn nieder, mit dem Gesicht zur Erde. Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten. Der Statthalter Nehemia, der Priester und Schriftgelehrte Esra und die Leviten, die das Volk unterwiesen, sagten dann zum ganzen Volk: Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des Herrn, eures Gottes. Seid nicht traurig und weint nicht! Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte des Gesetzes hörten. Dann sagte Esra zu ihnen: Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“

Zur 2. Lesung (1 Kor 12, 12-31a)

Die heutige zweite Lesung knüpft unmittelbar an den Abschnitt vom letzten Sonntag an. Für Paulus lebt und gedeiht der „Leib Christi“, die Kirche, genauso wie ein menschlicher Körper: Nur wenn alle Teile des Leibes unverzichtbar zusammenarbeiten und sich ergänzen.

Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther:

Liebe Schwestern und Brüder! „Wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: So ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt. Auch der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und wenn das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leib!, so gehört es doch zum Leib. Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? Nun aber hat Gott jedes einzelne Glied so in den Leib eingefügt, wie es seiner Absicht entsprach. Wären alle zusammen nur ein Glied, wo bliebe dann der Leib? So aber gibt es viele Glieder und doch nur einen Leib. Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm. So hat Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die andern als Propheten, die dritten als Lehrer; ferner verlieh er die Kraft, Wunder zu tun, sodann die Gaben, Krankheiten zu heilen, zu helfen, zu leiten, endlich die verschiedenen Arten von Zungenrede. Sind etwa alle Apostel, alle Propheten, alle Lehrer? Haben alle die Kraft, Wunder zu tun? Besitzen alle die Gabe, Krankheiten zu heilen? Reden alle in Zungen? Können alle solches Reden auslegen? Strebt aber nach den höheren Gnadengaben!“

Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas (Lk 1, 1-4; 4, 14-21):

„Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzu-schreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.

Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen. So kam er auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“

Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie schon mal vor Freude geweint? Ich kann mich persönlich nicht daran erinnern, eine Erfahrung ist mir aber dazu eingefallen: In der Ausbildung zum Krankenpfleger war es gewünscht, in der Zeit auf der Gynäkologischen Station auch bei einer Geburt dabei zu sein. Das ist bei mir ja mittlerweile schon 25 Jahre her, aber ich weiß noch genau, wie das für mich war. Ein junges Paar erwartete ihr erstes Kind und ich war sehr dankbar, dass die mir die Erlaubnis gegeben haben, bei der Geburt dabei zu sein. Und in dem Moment, als das Kind geboren wurde, lief mir eine Träne über die Wange, ich konnte das gar nicht verhindern. Das berührt mich seit damals. – Als ich die erste Lesung von heute gelesen habe, ist mir dieses Erlebnis eingefallen – warum? Weil ich glaube, dass die Israeliten vor Freude geweint haben (vgl. Vers 9), als Esra ihnen aus der Hl. Schrift vorlas, was wir in der ersten Lesung gehört haben. Vielleicht war das für sie auch so etwas wie eine Geburt, ein Neuanfang, als sie sich in so großer Schar nach der Heimkehr aus dem Exil zum Gottesdienst versammeln und das „Wort Gottes“ hören. Ich denke, ihre Ergriffenheit ist aber besonders darauf zurückzuführen, dass sie sich gemeint, dass sie sich persönlich angesprochen fühlen durch das, was sie aus der Bibel hören. Meiner Überzeugung nach kann man die Bibel so differenzieren: Was für alle Menschen zu allen Zeiten gilt (und zu Frieden, Freiheit und Gemeinschaft führt), ist „Gottes Wort“, das andere sind (historische o.ä.) Schilderungen, die keine spezielle Bedeutung für uns haben. Eine besondere (diesbezügliche) Dramatik haben wir gerade im Evangelium gehört: Jesus fühlt sich nicht nur persönlich angesprochen durch das, was er im Propheten Jesája über den verheißenen Gottesknecht vorliest, er identifiziert sich damit und stellt es dadurch als sein Programm vor, als sein Programm der Erlösung: Den Armen eine gute Nachricht bringen, den Gefangenen die Entlassung verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit setzen und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen.

Die kommenden drei Jahre seines öffentlichen Auftretens bis zu seinem Tod wird Jesus nichts anderes tun, als diese Verheißung einzulösen! Aber was bedeuten diese fünf Schwerpunkte konkret – und für uns?

Den Armen eine gute Nachricht bringen“ – welche Nachricht? Dass den „Armen vor Gott“ (Mt 5, 3) das Himmelreich gehört, d.h. die, die sich von Gott beschenken lassen, sind in unmittelbaren Kontakt zu ihm! Dass Gott „Barmherzigkeit“ [= bei Armen das Herz haben] will, nicht Opfer (vgl. Mt 9, 13)! Und dass wirkliches Teilen mit denen, die noch bedürftiger sind als wir, Heil und Segen bringt (vgl. das Opfer der armen Witwe, Mk 12, 41-44).

Den Gefangenen die Entlassung verkünden“ – heißt das, alle Gefängnisse öffnen? Wohl kaum. Geht es da nur um die Gefängnisse mit Steinmauern? Sicher nicht, sondern besonders auch um die Gefängnisse und Mauern unserer Enttäuschungen und alten Bilder. Und da hinein die Botschaft: ´Wenn du willst, kannst du jederzeit aus Fehlern, aus Sackgassen lernen und für ein besseres Leben kämpfen, für dich und für andere.` Die wahre Freiheit ist die Liebe!

Den Blinden das Augenlicht verkünden“ – auch damit sind wohl wir alle gemeint und angesprochen: Wenn wir blind sind für Gleichheit, für die Not anderer, für Alternativen und Träume, für Innovation und Gerechtigkeit. Jesus Christus ist das Licht der Welt, wer ihm nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben (vgl. Joh 8, 12).

Die Zerschlagenen in Freiheit setzen“ – die „Zerschlagenen“ sind die ohne Hoffnung, die Verzweifelten und Hilflosen, die Einsamen und Müden. Was ist da Freiheit? Mitleiden, Mithelfen, neue Perspektiven suchen und ermöglichen – das ist wirkliche Gemeinschaft im Alltag, die hilft, unterstützt und heilt: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11, 28), verspricht Jesus.

Ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen“ – nach Lev 25, 8-55 sollten sich die Israeliten alle 50 Jahre gegenseitig sämtliche Schulden erlassen, verpfändetes Erbland zurückgeben und Schuldsklaverei aufheben. Historisch ist das wohl nie umgesetzt worden. Da Jesus sich ja nicht nur mit dieser von ihm ausgewählten Textstelle aus Jesája identifiziert, sondern sie durch ihn als erfüllt verheißt, bedeutet das, dass Jesus selbst dieses „Gnadenjahr“ ist! Schon bei der Ankündigung seiner Geburt wird Maria offenbart, dass er „sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1, 21b) wird.

Das ist also das Programm Jesu, das sind also die Aufgaben und Kennzeichen von Erlösung – und wir sind persönlich angesprochen, dem nachzufolgen, da mitzumachen! Wir sind persönlich angesprochen, unsere Armut mit anderen und deren Armut mit uns zu teilen, uns gegenseitig aus den Gefängnissen unserer Angst, unserer Vorurteile und unseres Egoismus zu befreien. Wir sind persönlich angesprochen, einander die Augen zu öffnen für das Gute und Bleibende im Leben, auf und an der Seite der Leidenden zu stehen und immer wieder anders weiterzumachen, wo es Not-wendig ist, einen Neuanfang zu wagen und zu gewähren, damit das Gute siegt. –

Was brauchen wir, um uns daran zu erinnern?