Schmuckband Kreuzgang

Ja-Sager – Nein-Sager

Datum:
Do. 12. Okt. 2023
Von:
Pfr. em. Kurt Sohns

Die Wahrheit ist einfach. Wer aus der Wahrheit lebt, der lebt in einer großen Freiheit. Er lebt aber auch gefährlich, weil er eine Herausforderung ist für die, die an der Wahrheit vorbeileben. Von ihnen werden viele Tricks gebraucht, und oft greifen sie auch zur Macht, um ihr System aufrecht zu erhalten.

Wer das Evangelium unter diesem Aspekt liest, der kann sehen, wie gefährlich Jesus gelebt hat. Was er tat, lässt sich unter das Wort stellen, das er zu Pilatus sagt: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ (Joh 18,37).
Damit hat Jesus nicht gemeint, er müsse eine theoretische Wahrheit, die er als die richtige ansieht, gegen eine andere setzen. Jesus hat unter Wahrheit etwas Konkretes verstanden. Etwas, das notwendig ist, damit das Leben sich entfalten kann. Im Sinne Jesu pervertiert Unwahrheit das Leben. Wenn wir die Aussagen Jesu dazu lesen, vor allem im Johannes-Evangelium, ist das für uns nicht leicht, ihre Bedeutung zu ermessen. Denn was wir unter Wahrheit verstehen, ist oft wenig konkret.

Früher hat man in der Schule als katholisches Kind gelernt, die katholische Kirche sei die wahre Kirche; nur die katholische Kirche besitze die Wahrheit. Wer mit diesem Modell im Kopf mit evangelischen Christen redete, war kaum ein guter Gesprächspartner. Was er zu sagen wusste, hatte mit der gelebten Wahrheit, mit seinem Beten, mit seinem Vertrauen auf Gott wenig zu tun. Dass in der ökumenischen Bewegung von Bewegung noch zu wenig zu merken ist, hängt auch damit zusammen, dass für die Kirchenleitung auf beiden Seiten die gelebte Wahrheit zu wenig Bedeutung für die Wahrheitsfindung hat. Da wird zu diplomatisch mit der Wahrheit umgegangen. Da wird dem konkreten Leben zu wenig Beachtung geschenkt.

Jesus musste nicht diplomatisch mit der Wahrheit umgehen. Er hatte kein System zu verteidigen, er musste keine Machtpositionen halten. Insofern war er wirklich frei. Und er stand denen gegenüber, die mit der Religion Macht ausübten. Denken Sie an das Sabbat-Gebot. Sein ursprünglicher Sinn war der, den Menschen den freien Raum zuzugestehen, dass er aufatmen konnte von der Arbeit, dass er sich besinnen konnte auf das Ziel seines Lebens, dem ja die Arbeit untergeordnet ist, und letztlich, dass er feiern konnte, vor Gott feiern konnte, ja, Gott als die Quelle seines Lebens feiern konnte. Aber was hatten die Kirchenmänner daraus gemacht? Ein das Leben einschränkendes Gesetz. Das Leben wurde kompliziert und mühsam, wenn man das Gesetz richtig erfüllen wollte. Als Jesus Kranken zur Gesundheit verhalf am Sabbat, da stellte man ihn als Gesetzesverächter hin, obwohl er doch mit seiner Hilfe zum Leben den tiefen Sinn des Sabbat-Gebots erfüllt hatte. In den Kampf Jesu um Befreiung zum wahren Leben gehört auch die Gleichniserzählung unseres heutigen Evangeliums. Jesus hat erlebt, wie gerade unter denen, die sich als die Garanten der Religion fühlen und präsentieren, die Kluft groß ist zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie wirklich tun. Ihnen legt er das Gleichnis vor von den zwei Söhnen, von denen der eine sich mit dem Ja-Sagen begnügt. Die gemeinte Sache, die macht er sich nicht zu eigen. Übertragen auf das Verhältnis des Menschen zu Gott heißt das: Den Menschen, der so handelt, kümmert die Sache Gottes nicht. Die von Jesus Angesprochenen müssen durch seine Worte ungemein hart getroffen werden, zumal sie in der Gestalt des anderen Sohnes, der zuerst nein sagt, aber letztlich dem Willen des Vaters entspricht, denen begegnen, die sie als die Sünder ansehen. Wie muss einer, der sich für gerecht hält, der sich mit Gott im Bunde fühlt, es empfinden, wenn ihm gesagt wird: „Betrüger und Prostituierte kommen eher in Gottes Reich als du?“
Wie können wir dieses Evangelium verstehen. Intellektuell ist das gewöhnlich nicht schwer. Die Schwierigkeit liegt darin, ob wir uns richtig einschätzen. Sind wir wie der, der nur ja-sagt aber das Ja nicht ins Tun umsetzt? Sind wir wie der, der es ablehnt zu tun, was der Vater sagt, aber es doch tut? Auch wenn ich zunächst sagen kann: „So bin ich nicht“, und so bin ich auch nicht -, bleibt die Frage: wem der beiden Gestalten entspreche ich am meisten? Mir erscheint die Gestalt des Ja-sagers im Tiefsten dadurch gekennzeichnet, dass sie von der ihm aufgetragenen Sache nicht bewegt wird. Darum ist seine Situation auch hoffnungslos. Er ist fertig. Wenn Jesus Menschen auf das Bedenkliche, ja Hoffnungslose ihres Zustands hinweist, dann sind es die Fertigen. Die, die über Gott Bescheid zu wissen meinen; die, die sich über andere stellen und sie moralisch bewerten; die, die nicht mehr beunruhigt werden, deren Herz nicht mehr schneller schlägt, traurig wird oder glücklich, wenn sie beten.

In seinen „Beigefügten Anmerkungen über Herrn Descartes und die cartesianische Philosophie“ schreibt Charles Péguy: „Es gibt etwas noch Schlimmeres als eine schlechte Seele zu haben .. Nämlich: eine fertige, eine fertig gemachte Seele zu haben. Es gibt etwas Schlimmeres, als sogar eine verderbte Seele zu haben. Nämlich: eine Gewohnheitsseele zu haben“. Ich finde, in diesen Worten sind die Ja-Sager, die Jesus als die eigentlich Gefährdeten ansieht, gut charakterisiert. Die Nein-Sager werden von Jesus nicht idealisiert. Jesus verharmlost nicht Schuld und Sünde. Doch er sieht die Chance der Sünder darin, dass sie mit Gott nicht fertig sind. Sie erklären sich nicht in Ordnung. So kann Wandel noch geschehen. Charles Péguy beschreibt die Chance der Sünder im Verhältnis zu der Chancenlosigkeit derer, die sich für gut halten, also der sogenannten anständigen Leute. Diese sind unverwundbar. Ihre beständig heile moralische Haut schafft ihnen ein undurchdringliches Fell und einen Panzer ohne Lücke“. Für die Sünder dagegen gilt: „(Doch) die schlimmsten Erbärmlichkeiten, (doch) die schlimmsten Niederträchtigkeiten, (doch) die Sünde selbst sind oft nur die schadhaften Stellen in der Rüstung des Menschen, die schwachen Stellen des Panzers, an denen die Gnade den Panzer der menschlichen Härte durchdringen kann. Die wichtigste Frage, die uns das Evangelium heute stellt, scheint mir die zu sein: Sind wir mit Gott (und damit mit uns) fertig? Es ist erschreckend, wie häufig unter uns Christen Feindbilder übernommen oder aufgebaut werden. Das heißt, wie schnell wir mit anderen fertig sind. Mit den Linken oder den Rechten, mit den Ausländern, mit den Atomgegnern, mit den Asozialen, mit denen, die uns nicht passen, die in das Erscheinungsbild der Kirche nicht passen und von denen wir denken, sie passen auch Gott nicht. Da kann man sich täuschen! Das Gleichnis vom unzuverlässigen Ja-Sager und vom verlässlichen Nein-Sager kann uns zu denken geben. Jesus hat so nicht ohne Grund gesprochen.


Kurt Sohn