Schmuckband Kreuzgang

Meine Endlichkeit annehmen können

Datum:
Sa. 2. März 2024
Von:
Pfr. em. Kurt Sohns

Der chilenische Dichter Pablo Neruda beginnt ein Gedicht (Walking around):
„Es kommt vor, dass ich müde bin, Mensch zu sein.“
Wahrscheinlich ist niemand von uns dieses Empfinden ganz fremd. Der Grund dafür kann darin liegen, dass wir mit dem eigenen Mensch-sein nicht zurechtkommen.

Der Religionsphilosoph Romano Guardini hat ein kleines, ganz wertvolles Buch geschrieben: „Die Annahme seiner selbst“. Darin sind die Fragen angesprochen, die sich aus der Mühsal, mit dem eigenen Menschsein nicht zurechtzukommen, ergeben. „Es gibt das Gefühl, mit sich selbst betrogen, in sich eingesperrt zu sein: Nur so viel bin ich, und möchte doch mehr.“
Der Grund, müde am Menschsein zu sein, kann aber auch der sein, wenn wir, abgesehen von uns, sehen, wie die Welt sich zeigt. Durch die moderne Technik werden wir mit Nachrichten aus der ganzen Welt überschüttet. Der Großteil dieser Nachrichten zeigt die Not auf, in die Menschen durch Kriege, durch andere Verbrechen, durch Naturkatastrophen geraten.

Auf den ersten Seiten der Bibel wird sogar davon berichtet, dass Gott müde am Menschsein geworden war. „Jahweh sah, dass die Bosheit des Menschen auf der Erde groß war und alles Sinnen der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag. Und es reute Jahweh, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in sein Herz hinein“ (Gen 6,5 f.).
Von Jesus ist ein Wort bei allen drei Synoptikern überliefert, das von seinem Müdesein am Menschen spricht: „O ungläubiges Geschlecht, bis wann werde ich bei euch sein? Bis wann werde ich euch ertragen?“ (Mt 17,17; Mt 9,19; Lk 9,41)

Ich weise auf diese Zeugnisse des Müdeseins am Menschsein nicht hin, um zur Resignation aufzurufen. Im Gegenteil. Wir müssen erkennen, wie tief dieses Müdesein gehen kann, um herausgefordert zu werden, mit aller Kraft ihm den Willen zum Leben entgegenzustellen. Dieser notwendige Widerstand ergibt sich aber nicht aus einer inhaltsleeren Opposition, letztlich muss er aus der Liebe zum Leben, aus der Liebe zum Menschen entspringen.

Bei Jesus ist diese Liebe zu sehen. Ich zitiere eine Stelle aus dem Markus-Evangelium, die sich ähnlich im Matthäus-Evangelium findet. „Als er (vom Boot) ausstieg, sah er viele Leute. Da ward ihm weh um sie, weil sie wie Schafe waren, die keinen Hirten haben“ (Mk 6,34). Im Matthäus-Evangelium heißt es: „Es ward ihm weh um sie, weil sie geschunden waren und preisgegeben wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (9,36). Jesus sieht also nicht nur die Not der Menschen. Er hat auch die im Blick, die ihre Not verursachen. Es gab auch damals wie heute die Ausbeuter, die auf Kosten der Armen es sich gut gehen lassen. Bei Jesus ist das Gegenteil der Fall. Sein Dasein für die Menschen ist im Johannes-Evangelium so beschrieben: „Da er die Seinen in der Welt liebte, wollte er sie bis zum Ende lieben“ (13,1). Die Betroffenheit Jesu in der Begegnung mit der Not der Menschen, die in den zitierten Stellen (von Fridolin Stier) mit den Worten: „es ward ihm weh um sie“ übersetzt wird, wird z.B. in der Einheitsübersetzung wiedergegeben mit dem Wort Mitleid, und die Strukturen, aus denen die Not verursacht wird (geschunden und preisgegeben), werden außer Acht gelassen. Der Theologe Johann Baptist Metz macht darauf aufmerksam, dass es „in der deutschen Sprache kein Wort (gibt), das diese elementare Leidempfindlichkeit unmissverständlich zum Ausdruck bringt. »Mitleid« ist kaum mehr unschuldig zu gebrauchen. Es klingt jedenfalls zu gefühlsbetont, zu praxisfern, zu unpolitisch“. Metz verwendet, wie er sagt, „versuchsweise“ das Fremdwort »Compassion« und versteht diese Compassion „nicht als vages »Mitgefühl« von oben oder von außen, sondern als Mitleidenschaft, als teilnehmende, als verpflichtende Wahrnehmung fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der Anderen“.

Wenn wir das Wort „Mitleidenschaft (Compassion)“ betrachten, kann sich uns zeigen, dass es mehr als das Wort „Mitleid“ an die Kräfte in uns denken lässt, die uns drängen, uns für die Anderen einzusetzen, mit Leidenschaft. Damit wird schon unser Sehen ein anderes. Es wird dem Sehen Jesu ähnlich, der nicht, wie er es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter aufzeigt, nur hinsieht und den Hilfsbedürftigen seiner Not überlässt. So tun es Priester und Levit. Sondern wie der Samariter den in Not Geratenen mit sehenden Augen, mit leidempfindlichem Herzen wahrnimmt und ihm in der Not beisteht (Lk 10, 30-37).
Die Mitleidenschaft ist eine Gegenkraft gegen das Vergessen. Politiker und Politikerinnen vergessen oft schnell, was sie, um gewählt zu werden, versprochen haben. Bischöfe scheinen manchmal zu vergessen, dass sie vor allem gute Hirten, nicht Herren in ihrer Diözese, zu sein haben. Wir alle haben unsere Vergesslichkeiten, wenn unsere Mitleidenschaft mit denen, die unsere Hilfe brauchen, nicht stark genug ist.

In unserer Lesung aus dem Prophetenbuch Jesaja klagt das Volk, Gott habe es vergessen. In der Antwort, die Gott gibt, weist er auf die Größe der Mutterliebe hin. Doch auch sie hat ihre Grenzen. Diese Grenze ist angesprochen: „Wenn die Mutter ihr Kind vergessen würde, Ich vergesse dich nicht“ – sagt Gott. „Die umarmende Mutterliebe Gottes“, die durch Jesus verkündet worden ist, „sie ist das tiefste, mildeste Erbarmen“, sie hat keine Grenzen. Das schöne Wort von der „umarmenden Mutterliebe Gottes“ stammt von Hildegard von Bingen.
Dem Gotteswort: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen …? Selbst wenn sie es vergessen würde: Ich vergesse dich nicht“ – fügt Gott noch hinzu: „Siehe, in (meine) beiden Handflächen habe ich dich eingezeichnet“ (V.16). Dass Gott müde ist am Menschen, dass Er es bereut, ihn erschaffen zu haben, scheint mir, wenn es eine Außenseite der Liebe Gottes gibt, eine Aussage über diese Außenseite zu sein. Oder mehr noch: eine Projektion der Angst der Menschen, von Gott vergessen zu werden. Die Außenseite der Liebe Gottes könnte das sein, was wir als das Gesetzhafte beschreiben. Hans Urs von Balthasar hat das Gesetzhafte einmal genial beschrieben: „Das Gesetz ist das strenge Antlitz der Liebe für den, der sie noch nicht kennt“. Die Innenseite der Liebe Gottes ist für uns unfassbares Geheimnis, deren Ausstrahlung uns zur größten und tiefsten Hoffnung ermutigt.
Ich habe am Anfang meiner Besinnung auf Romano Guardini und sein Buch „Die Annahme seiner selbst“ verwiesen. So unausweichlich uns diese Aufgabe gestellt ist, sie lässt sich von außen nicht erzwingen.
Romano Guardini schreibt: „Diese Forderung kann ich auf bloß ethischem Weg nicht erfüllen.“ Er bringt den Glauben ins Spiel. „Glauben heißt hier, dass ich meine Endlichkeit aus der höchsten Instanz, aus dem Willen Gottes heraus verstehe.“ Wenn ich dieser Wahrheit nahe komme-, wenn ich mich aus ihr heraus verstehe-, dann kann sich die Angst auflösen, ich müsse, um wertvoll zu sein, ein anderer werden, als der ich bin, eine andere werden, als die ich bin.

Je mehr es mir gelingt, ich selbst zu sein, desto mehr schwindet die Angst, nur ich selbst und nicht ein anderer, eine andere, ein im Sinn der Welt erfolgreicherer, intelligenterer, religiöserer Mensch zu sein. Je mehr uns das gelingt, desto weniger sind wir manipulierbar durch die Tricks der Welt, die es auch in der Kirche gibt, durch Ehrungen, durch Privilegien, durch Titel unseren Verführern dankbar sein zu müssen, ihrem Denken angepasst sein zu müssen, ihnen gehorsam sein zu müssen.

Wir leben in der Spannung zwischen den Kräften, die uns mit falschen Versprechungen dahin bringen wollen, dass wir uns selbst fremd werden und ihnen willig, und den Kräften, die uns helfen, uns selbst anzunehmen und damit unser Ja zu Gott zu sagen.
Im Sinn von Diethard Zils (etwas verändert und ergänzt) können wir sagen: Wir brauchen einen langen Atem in aller Atemlosigkeit. Wir brauchen Gottes Geist, um nicht der Geistlosigkeit zu verfallen. Und  steht tausendmal in jeder Zeitung, dass Glaube keine Zukunft habe, ich habe keinen Grund, es nachzureden. Und sind auch die verbürgerlichten Christen die stärksten Argumente gegen mich, sie wiegen nicht auf gegen das Eine: Jesus von Nazaret, der lebt und lebendig macht. – Aber eines brauche ich, und darum bitte ich Gott: Eine Handvoll Menschen, die meine Sicht teilen, eine Handvoll Menschen, die immer wieder zusammenkommen, versammelt in Deinem Namen und erfahren, dass Du, Gott, mitten unter uns bist (Jes 49,14-16 Mt 6,24)


Kurt Sohns