Die Frage „Wer ist der Mensch?“ oder: „Was ist der Mensch?“ begleitet den Menschen in der ganzen Menschheitsgeschichte. Die Antwort ist nicht leicht zu geben. Wüsste der Mensch bis zum Letzten, was sein Wesen ist, dann müsste er Gott sein. Weil er das nicht ist, wird er weiter nach sich fragen. Dieses Fragen ist nicht so zu verstehen, dass er sich vornehmen müsste, nach sich zu fragen. Die Frage lebt in uns: Wer bin ich? Was bin ich? Es gibt auch das systematische Fragen. Daraus sind viele wissenschaftliche Werke entstanden. Doch selbst der intellektuell einfache Mensch kann die tiefsten Fragen stellen, und er kann mehr erahnen, wer der Mensch ist und was es um den Menschen ist, als es denen gelingt, die sich nur wissenschaftlich mit ihm beschäftigen.
Wir dürfen dankbar sein, dass es wertvolle Aussagen über den Menschen gibt, denn ein primitives Bild vom Menschen enthält die Gefahr, primitiv mit sich selbst und mit andern umzugehen. Ich nenne als Beispiel das Foltern von Menschen. Um etwas aus einem Menschen herauszupressen, wird versucht, durch physische und psychische Gewaltanwendung sein Verantwortungsgefühl, sein Ehrgefühl, seine Persönlichkeit zu zerstören, damit er willig ist, das Geforderte zu liefern. Sein Menschsein spielt für die Folterer keine Rolle. Wie zerstörend das Foltern nicht nur für den gefolterten Menschen und den Folterer ist, sondern für eine Institution oder eine Gesellschaft, die das Foltern toleriert, zeigt sich darin, dass die Kirche viel an ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat durch die Inquisition, obwohl das schon Jahrhunderte zurückliegt. Da wurde mit päpstlicher Zustimmung gefoltert. Heute hat Amerika sein Image als demokratisches Land, als Land, in dem die Menschenrechte geachtet werden, verloren, oder es wurde stark beschädigt und infrage gestellt, weil in Guantanamo oder Abu Ghraib Menschen gefoltert wurden.
Wir haben uns auch zu fragen, mit welchem Menschenbild die Krämerseelen in den Vorstandsetagen unserer Banken und Konzerne leben, dass sie es für richtig ansehen, sich selbst mit Millionen zu bedienen, aber den Armen immer weniger zukommen zu lassen. Eine wichtige Frage ist auch die, ob wir die biblische Wahrheit, dass Gott der Schöpfer und Vater aller Menschen ist, gelten lassen, wenn wir an Menschen mit einer anderen Religion, aus anderen Kulturen, aus anderen Ländern denken.
Ich komme wieder auf die Frage zurück: Was ist der Mensch? Einer der großen unter den Theologen, Karl Rahner, hat auf die Frage „Was ist der Mensch?“ geantwortet: „Ich meine, der Mensch ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt“. Gemeint ist, es gibt für uns keine endgültige Antwort. Es gibt wichtige Antworten beim Suchen nach der Antwort, die den Menschen umfassend und endgültig beschreibt. Eine dieser wichtigen Antworten ist bei Karl Rahner zu finden. Sie lautet: Der Mensch ist „Hörer des Wortes“. Das ist der Titel eines Werkes von Rahner, das 1941 erschienen ist. Von diesem Werk schreibt der Theologe Johannes Baptist Metz, der es 1963 überarbeitet neu herausgegeben hat: „Der Titel des Buches wurde mit den Jahren geläufiger als sein Inhalt“. Die Beschreibung des Menschen als „Hörer des Wortes“, nicht irgendeines Wortes, schon gar nicht als Hörer vieler Wörter, von denen die Lyrikerin Rose Ausländer schreibt: „Ich verliere mich im Dschungel der Wörter“, sondern des Wortes, das von Gott kommt und das Rose Ausländer meint: Ich „finde mich wieder im Geheimnis des Worts“. Diese biblische Beschreibung des Menschen zeigt ihn als beschenkt und beauftragt.
Wer die Psalmen liest, begegnet oft der Dankbarkeit des betenden Menschen dafür, dass er beschenkt ist mit Gottes Wort, weil es Orientierung für seinen Weg ist. Im Psalm 119 heißt es; „Meine Augen öffne mir, dass ich die Wunder deiner Weisung schaue“ (V.18). In einem anderen Vers ist die Dankbarkeit ebenso herauszuhören: „Ich laufe den Weg deiner Gebote, denn du weitest das Herz“ (V.32).
Als „Hörer des Wortes“ sind wir nicht nur beschenkt, sondern auch beauftragt. Wie Jesus sich als Botschafter Gottes verstanden hat, so hat er die, die seinen Weg gehen wollten, mit der Botschaft Gottes betraut. – Beim Propheten Sacharja gibt es diese schöne Stelle, in der die, die Gott erfahren haben, in ihrer Bedeutung als Vermittler dieser Erfahrung beschrieben werden. „So spricht Jahweh der Scharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer zugreifen aus allen Sprachen der Nationen, sie ergreifen den Saum eines Judäers und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch!“ (Sach 8,23).
Beim Propheten Amos ist ein Spruch Gottes zu finden, in dem die von Gott gewollte und geschenkte Sehnsucht des Menschen nach Seinem Wort beschrieben ist: „Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn Jahweh – da sende ich Hunger ins Land, nicht Hunger nach Nahrung und nicht Durst nach Wasser, sondern danach, die Worte Jahwehs zu hören“ (Am 8,11).
Auf die Frage: Was ist der Mensch? Lässt sich die Antwort geben: Der Mensch ist von seinem tiefsten Bestimmtsein durch Gott „Hörer des Wortes“. Ergänzend gehört die Aussage von Karl Rahner dazu: „Der Mensch ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt“. Die Zusammengehörigkeit der beiden Beschreibungen des Menschen ist darin gegeben, dass sich das Wesen des Menschen erst geschichtlich erschließt. Wir sind von Gott erschaffen, und wir sind in Christus „neue Schöpfung“ (Gal 6,15). Und durch Gottes Geist werden wir weitergeführt, wenn wir uns einführen lassen in die erfüllende Wahrheit Gottes.
„Ich vertraue darauf, dass Er (= Gott), der in euch das gute Werk begonnen hat, es vollenden wird“, schreibt Paulus im Brief an die Gemeinde in Philippi (1,6). Karl Rahner bemerkt zu dieser Stelle: „Wir sind alle auch begonnene Werke Gottes“.
Als „Hörer des Wortes“ sind wir als Lernende beschrieben. Nur als Lernende werden wir unserer tiefsten Bestimmung gerecht. Dieses Lernen ist kein einfaches Tun. Wenn wir uns auf diesen Prozess des Lernens einlassen, werden wir schnell erkennen oder haben es längst erkannt, dass dieser Prozess unsere ganze Kraft in Anspruch nimmt. Und die Versuchung ist groß, der Wahrheit auszuweichen.
In der Lesung aus der Schöpfungsgeschichte ist davon die Rede. Gott beschenkt den Menschen mit einem schönen, überaus reichen Lebensraum. Die Bibel beschreibt ihn als Garten. Gott sagt zu dem Menschen: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, aber von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn des Tages, da du davon isst, musst du sterben“. Das Angebot des Lebens ist verbunden mit der Erwartung Gottes, dass der Mensch Ihm Vertrauen schenkt. Das Vertrauen besteht darin, dass der Mensch nicht als Wissender mit Gott umgeht, sondern als Vertrauender. Wenn er sich auf Gottes Verheißung einlässt, wird er erkennen, dass Gott sein Leben gelingen lässt. Das gilt heute noch. Paulus hat es im Römerbrief zum Ausdruck gebracht: „Denen, die Gott lieben, wirkt alles zum Guten zusammen“ (8,28).
Dieses Vertrauen bringt der im Schöpfungsbericht beschriebene Mensch nicht auf. Die versucherische Kraft ist dargestellt im Symbol der Schlange. Sie ist als listig dargestellt. Das Gespräch, das sie mit der Frau beginnt, deutet schon an: Es geht ihr darum, das Vertrauen auf Gott zu zerstören. Die Frau lässt sich dennoch auf das Gespräch ein. Und es gelingt der versucherischen Schlange, Gott so darzustellen, als verweigere Er den Menschen das Entscheidende, was sie zum Leben brauchen, was sie glücklich macht. Die Frau bringt das Vertrauen nicht auf, das der Beter des Psalms 119 Gott mit den Worten entgegenbringt: „Wie liebe ich deine Weisung! Den ganzen Tag ist sie mein Sinnen. Dein Gebot macht mich weiser als meine Feinde, denn in die Zeit hin ists mein“ (V. 97 f.).
Wenn wir einen großen Zeit-Schritt machen, sind wir in der Versuchungsgeschichte bei Jesus. Zu seinem Menschsein gehört, dass er der Versuchung ausgesetzt war. Doch er lässt sich mit dem Versucher auf kein Gespräch ein. Er erkennt das Verlogene in der Sprache des Verführers, der zwar biblische Worte im Mund führt, doch sie sind darauf angelegt, die Vorstellung von Gott, mit der Jesus lebt, infrage zu stellen. Jesus ist entschieden, sein Leben nicht als Wissender zu leben, sondern als Lernender. Er war in besonderer Weise „Hörer des Wortes“ im ganzen Leben. Seine Antwort an den Versucher war: „Der Mensch lebt von allem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt“. Der Verfasser des Hebräerbriefs geht so weit, von Jesus zu sagen, er habe als das geliebte Kind Gottes „aus dem, was er gelitten, den Gehorsam gelernt“ (5,8). Darum sollen wir hinblicken auf ihn, des Glaubens Führer und Vollender“ (12,2).
Auch wir sind heute gefährlichen Versuchungen ausgesetzt. Das Gefährliche aber wird oft nicht erkannt, oder es wird bewusst bagatellisiert. Die Versuchung scheint in unserem Land groß zu sein, wie Dorothee Sölle einmal formuliert hat: „Je geistloser ein Satz ist, desto mehr Leute können sich kostenlos auf ihn einlassen“.
Wir dürfen im Sinn der biblischen Berichte von der Versuchung nicht geistlos sein. Wir dürfen uns nicht verdummen lassen. Der Preis, den wir zu zahlen hätten, könnte erschreckend hoch sein.
Kurt Sohns