Schmuckband Kreuzgang

Jessica Lind: Kleine Monster

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Jessica Lind: Kleine Monster (c) Hanser Berlin-Verlag
Jessica Lind: Kleine Monster
Datum:
Do. 21. Nov. 2024
Von:
Marcel Schneider (Red.)

Lind, Jessica (Verfasser): Kleine Monster : Roman / Jessica Lind. – 1. Auflage. – München : Hanser Berlin, 2024. – 248 Seiten ; 21 cm, 342 g. – 978-3-446-28144-8 Festeinband : circa EUR 23.00 (DE).

Pia und ihr Mann Jakob werden zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Ihr Sohn Luca, 7 Jahre alt, hat etwas getan. Alena, eine Mitschülerin, beschuldigt Luca und er weigert sich etwas dazu zu sagen. Als sie nach Hause fahren, hoffen sie, mit ihm in Ruhe darüber reden zu können, aber er schweigt beharrlich. Jakob bleibt geduldig und zugewandt, er sagt, Schweigen ist nicht lügen. Pia denkt: "Schweigen ist schlimmer. Ich weiß, wovon ich rede." Durch den Vorfall wird ihr bewusst, wie verletzlich ihre kleine, heile Welt ist. Sie beginnt zu zweifeln. Sie beobachtet Luca. Sie bedrängt ihn mit Fragen und verunsichert ihn damit noch mehr. Sie liebt ihr Kind über alles und kann doch nicht bedingungslos vertrauen. Als Alena bei einer Schulveranstaltung verschwindet, glaubt Pia zu wissen, dass Luca etwas damit zu tun hat.

Der Roman ist sehr spannend aufgebaut, zunächst weiß ich als Leserin nicht, was Luca gemacht hat. Ist es wirklich so schlimm, dass er nicht mit den Eltern darüber sprechen kann? Damit bin ich eine Weile beschäftigt und als Jakob es aufklären kann, scheint es mir nicht mehr so wichtig, denn längst geht es mir darum, was diese Geschichte in Pia angestoßen hat. Warum ihre Zweifel und das Misstrauen? Wovor hat sie Angst? Als Leserin beobachte ich sie - mit zunehmender Sorge - beim Graben in ihrer Vergangenheit. Sie versinkt immer mehr in ihren Erinnerungen und prüft sie auf Vollständigkeit und Wahrheitsgehalt. Nicht alles war und ist so wie es scheint. Es gibt Dinge, über die nie gesprochen wurde. Fragen auf die sie bis heute keine Antwort hat. Ihr Versuch, die Kindheit aufzuarbeiten, reißt bei allen Beteiligten alte Wunden auf. Sie macht ihren Eltern Vorwürfe, sie stalkt ihre Adoptivschwester, sie realisiert aber auch Fehler, die sie selbst gemacht hat. Alles gipfelt in der Frage: Was ist passiert an dem Tag, als ihre kleine Schwester starb?

Jessica Lind hat mit ihrem zweiten Roman einen kleinen, feinen Familienkrimi abgeliefert, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Sie analysiert die vielen Facetten des Familienlebens und die Fragilität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Alle bemühen sich, das Richtige zu tun. Alle kümmern sich umeinander. Hier wird keine „kaputte“ Familie beschrieben. Es gibt sehr viele liebevolle Szenen in diesem Buch. Aber die Idee der glücklichen Kindheit steht auf dem Prüfstand. Eltern zweifeln und verzweifeln an ihren Kindern - und umgekehrt.

Die Autorin schickt Pia auf einen steinigen Weg und während ich sie begleite und hoffe, dass sie es schafft, loszulassen, drängen sich mir viele Fragen auf. Unter anderem auch diese: Sind Kinder (manchmal) wirklich „Kleine Monster“?

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Theresia Pistorius, Bücherei am Dom Mainz

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