Grußwort anlässlich der Orgelweihe in St. Stephan, Mainz am 1. März 2013

Kardinal Lehmann (c) Alexander Sell

Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

Die Orgel ist durch den Geist des Christentums zu dem geworden, was sie heute ist, aber dieser Weg war keineswegs eine Königsstraße des Erfolgs. Die Orgel gilt zwar seit dem 14. Jahrhundert als die „Königin der Instrumente", aber dieser Ehrentitel darf nicht darüber hinweg täuschen, dass ihr Weg nicht einfach war. Klein waren die Anfänge. Die ersten Orgelformen bestanden aus einer Verbindung mehrerer Hirtenpfeifen, denen die Luft aus einem Tierfell, dem „Balg", zugeführt wurde. Der Dudelsack erinnert noch daran. Schon diese Verwandtschaft führte zu einem kritischen Urteil, als ob die Orgel nur für leichtfertige Musik stehen würde. So lautet die Kritik, gerade auch aus dem Gegenüber zur Einfachheit und Strenge des Gregorianischen Chorals, z. B. bei Thomas von Aquin: „Musikinstrumente solcher Art bewegen den menschlichen Geist mehr auf das Wohlgefallen hin, als dass durch sie im Inneren eine gute Verfasstheit auf Andacht hin gebildet würde." In der Zwischenzeit hatte aber die Orgel schon über den Orient in der westlichen Kirche Einzug gehalten. So fand sie ab dem 13. Jahrhundert in fast allen Domen und größeren Stadtkirchen Verwendung. Die Kritik einzelner Reformatoren, besonders bei Zwingli, verstärkt noch die Zurückhaltung. Viele Orgeln werden abgerissen. Immer wieder wird dafür 1 Kor 14,19 zitiert: „Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als verzückt 10.000 Worte stammeln."

Häufig sind es nun ausgerechnet die Institutionen von Stadt und Staat, die - wie besonders in Holland - die Orgel schützen und sie in den weltlichen Raum geleiten. Die Orgel verliert das Wurzelreich des Gottesdienstes und der Kirche. Sie wandert aus in den Konzertsaal, während die Musik des Gotteshauses verarmt. „Säkularisierung" von Musik und Orgel ist ein Wort, das sich häufig in der Fachliteratur findet. Wo die Orgel wieder im Kirchenraum zugelassen wird - vielerorts dauert es bis in die Mitte des 18. und 19. Jahrhunderts -, muss sie sich wie früher mit dem Intonieren und Begleiten zufriedengeben. Sie darf auf keinen Fall die Wortverkündigung und das Predigtamt beeinträchtigen.

Dennoch hat die Orgel sich weithin durchgesetzt. Sie ist für die Verkündigung des Wortes Gottes kein Hindernis. Je mehr sie der gottesdienstlichen Handlung dient, umso mehr kommt sie zu ihrem eigenen Rang. In allen gottesdienstlichen Ordnungen ist dem früher gefürchteten Missbrauch ein Riegel vorgeschoben. Deshalb soll die Orgel auch schweigen können.

Das Wort selbst ist mehr als nur verbale Äußerung. Es bringt Höhen und Tiefen, Klang und Rhythmus der Sprache Gottes und des Menschen zu Gehör. Es reicht hinab in das Bodenständige einer Landschaft und hinauf in die reinste Heiterkeit des Himmels. Das Wort möchte den ganzen Menschen erwecken, indem es das Temperament des Geistes entbindet und die menschlichen Affekte in die große Ordnung einbindet. Das Wort braucht keine Angst zu haben vor der Vitalität der Musik. Die Musik ist ja keine gleichsam von außen kommende Macht, die mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen in Konkurrenz treten würde. Auch die Musik der Orgel ist auf menschliches Können angewiesen. Dem Willen des Menschen entsprechend ruft dieses Instrument alle Dinge der Schöpfung herbei, um den Klang des Gotteslobes aus allen Kreaturen erschallen zu lassen: alle Hölzer und Metalle, alle Handwerkskunst und jegliche Virtuosität. Die Orgel sammelt alle übrigen Mittel menschlicher Musik und ordnet sie zu einem vielstufigen und reich verzweigten Kosmos des Gotteslobes zusammen. Nicht zuletzt darum wird sie die Königin der Instrumente genannt. Der Tiefe des Wortes verleiht sie ihre Farben und ihre Bewegtheit. Es wäre falsch, sie nur im Vorfeld des Wortes anzusiedeln, wo sie mit der Macht der Töne ästhetisch locken und die Sinnlichkeit des Menschen gleichsam aufreizen würde. Vielmehr kündet die Orgel selbst von der Sprachgewalt der Musik und der Instrumente. Sie kann wortlos Dinge sagen, wo die Sprache versagt, wenngleich sie das Wort immer wieder braucht, damit ihre Klanggewalt nicht einmal zu leerem, unverbindlichem Schall wird. Die große Orgelkunst, besonders im evangelischen Raum, vor allem bis zur Aufklärung, ist ein Zeugnis für Verkündigung durch das Wort der Musik.

Doch kann die Orgel auch als ein verführerisches Instrument ablenkend wirken. So dumm sind die Sorgen der Überlieferung nicht. Wo aber die Kunst am größten war, sah sich die Orgel einzig und allein zur Ehre Gottes bestimmt. Wirkliche Gefahren tauchten immer dann erst voll auf, wenn die Orgel noch nicht oder nicht mehr dem Mutterboden des Gottesdienstes zugehörte. Nur in verweltlichter Atmosphäre konnte sie zu billigem Religionsersatz werden. Wie alles Kreatürliche und Menschliche, so ist auch die Orgel vieldeutig. Aber diese Vieldeutigkeit, die dem Irdischen anhaftet, muss nicht von sich aus schon negativ sein: Zum Lichtspektrum der Schöpfung gehören die dunklen Töne, aber dies ist keine Finsternis; das Geschöpf hat Grenzen, aber es ist dennoch nicht zwangsläufig ein einziger Fehler; Traurigkeit und Melancholie müssen nicht gleich zur Verzweiflung führen.

Die Orgel und ihre Kunst wissen etwas von dieser Zwiespältigkeit allen menschlichen Tuns. Größe und Elend, Höhen und Tiefen, letzte Harmonie und äußerste Gegensätze liegen nahe beieinander. Aber darum ist die Musik noch nicht ein „dämonisches Gebiet", wie Thomas Mann einmal meinte. Sie zeigt allerdings auf den Bereich, der über sie hinausreicht, auf das schlechterdings Unverfügbare, das der Mensch nicht von sich aus erlangen, aber auch nicht entbehren kann, sondern nur hoffnungsvoll von Gott her entgegennehmen darf.

Mit Ihnen allen, meine lieben Schwestern und Brüder der Gemeinde St. Stephan hier inmitten der Mainzer Innenstadt, sowie allen Besuchern freue ich mich über die Weihe der Orgel. Wenn auch Ihre Kirche vielleicht zuerst bekannt und berühmt ist wegen der Chagall-Fenster, so ist sie doch in allererster Linie ein Haus des Gottesdienstes und des Gebets, nicht allein der Besichtigung.

Es ist nur angemessen, wenn hier zur Ehre Gottes Liturgie gefeiert wird, bei der musiziert und die menschlichen Stimmen getragen und unterstützt werden durch die Klangfarben der vielen Register und Töne der Orgel.

Allen, die zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, sei ein herzliches Vergelt's Gott gesagt.

Enden möchte ich mit dem Schlußvers des Psalters, der alles zusammenfasst und uns alle einbegreift:

Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.