Erworbene Verdienste sind schnell vergessen, wenn Versprechen nicht eingehalten werden; erst recht, wenn Verfehlungen und Ungereimtheiten offenbar werden.
Schnell schlagen Meinungen, Stimmungen um.
Es hatte alles so super angefangen mit Jesus: die Menschen in Nazareth spenden ihm Beifall und staunten, wie begnadet er reden konnte; einer aus ihrer Kleinstadt. Begeisterung, Bewunderung, Stolz …und dann, wenige Minuten später:
Wut und Zorn, sie springen auf, sie treiben ihn zur Stadt hinaus
Wer ist schuld an diesem Stimmungsumschwung?
Jesus selbst!
Warum musste er auch so provozieren? Die Leute von Nazareth wollen einen begnadeten und unterhaltsamen Redner – aber keinen unbequemen.
Sie wollen jemand, der sie bestätigt, aber keinen, der ihr Verhalten in Frage stellt.
Sie wollen einen Arzt- aber nicht einen, der auch bittere Arznei verabreicht.
Dieser Jesus ist unbequem -unbequem auch meinetwegen.
Die Botschaft Jesu umfasst viele Worte, die mir gefallen, Worte, die mir gut tun, die mich aufrichten und mein Selbstwertgefühl stärken, Worte, die mich trösten und froh machen, Worte, die mir meine Würde deutlich machen; Worte, die mir die Angst nehmen und mir das Vertrauen schenken, geliebt zu sein.
Doch umfasst die Botschaft Jesu ebenso Worte, an denen ich mich stoße, die mir nicht gefallen, die mich vielleicht sogar ärgerlich machen: Wer hört schon gerne den mahnenden, den fordernden Jesus, den Jesus, der mich persönlich anfragt, mich zur Umkehr ruft, der mich spüren lässt, dass mein Reden und Tun so oft nicht übereinstimmen, den Jesus, der mir meinen Egoismus, meinen Neid, meine Intoleranz offen legt.
Warum kann Jesus sich nicht zurückhalten, warum muss er immer wieder provozieren, warum legt er es darauf an, Unruhe zu stiften, Widerspruch zu erregen? Die Antwort ist: weil er uns Menschen liebt.
Weil Jesus uns liebt, redet er uns nicht nach dem Mund.
Wer ist ein besserer Freund? Der, der die Augen zumacht vor meinen Fehlern oder der, der mir aufrichtig seine Meinung sagt?
Das Evangelium lehrt uns, zu unserem Versagen zu stehen.
Das Evangelium will uns unsere oft vorschnellen Reaktionen auf Kritik überdenken helfen, vor allem jene Situationen, in denen wir wenig später gemerkt haben, dass die Kritik berechtigt, ja sogar wichtig war und uns letztlich vorangebracht hat.
Das heutige Evangelium mahnt uns als Kirche gerade jetzt, uns offen der berechtigten Kritik zu stellen, Versagen einzugestehen, uns neu aufzustellen.
Vielleicht haben Sie in der vergangenen Woche den Fernsehbeitrag „Wie Gott uns schuf“ gesehen. Nicht-heterosexuelle Priester, Ordensleute Gemeindereferentinnen, Bistums-Mitarbeitende, Religionslehrende, Kindergärtnerinnen, Sozialarbeiter berichteten von Einschüchterungen, Denunziationen, tiefen Verletzungen durch kirchliche Personalverantwortliche und von jahrzehntelangem Versteckspiel.
Sie berichten von einem System, in dem Druck, Angst und Willkür die Mitarbeitenden in Ungewissheit lassen, was genau passiert, wenn sie zu ihrer sexuellen Identität stehen, wenn sie zu dem stehen, wie Gott sie schuf.
Während in einem Bistum viel geduldet wird, die Betroffenen zum Teil sogar große Unterstützung erfahren, gibt es im nächsten Bistum harte Konsequenzen, bis zur Auflösung des Arbeitsvertrags.
Sexualität ist ein Geschenk Gottes; Sexualität steht für Intimität, für den Kern der Person; darf Kirche da ausgrenzen und diskriminieren; muss Kirche da nicht dazulernen? Da tut es gut, wenn zumindest Bischof Kohlgraf sagt: „Es ist für mich völlig klar, dass ich alle Menschen (unabhängig ihrer sexuellen Orientierung) als Ebenbilder Gottes betrachte.“ Das Evangelium fordert auf, zu sagen, wir haben Menschen unrecht getan; es tut uns als Kirche leid, jetzt wissen wir, wir hatten nicht recht. Sicherlich dauert es in der Kirche oft lange, zu lange, bis unbarmherzige Fehleinschätzungen zugegeben werden.
Jesus deckt alle Menschenunfreundlichkeit auf; auch wenn es uns nicht gefällt; er trifft uns an den empfindlichsten Stellen; nicht um zu quälen, sondern um zu heilen.
Nur eine erneuerte, geheilte Kirche hat eine Zukunft.
Weil Jesus uns liebt, weil er seine Kirche liebt, spricht er auch harte Worte: “Wer einen von diesen Kleinen….zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein im Meer versenkt, würde“.
Die Veröffentlichung des Gutachtens über den Umgang mit Fällen sexueller Gewalt im Erzbistum München bewegt uns; viele kirchlich Engagierte, Haupt- und Ehrenamtliche sind frustriert; gehen auf Distanz. Das Münchner Gutachten bestätigt wie vorher schon in Köln, Aachen und Berlin massive Versäumnisse von Bistumsverantwortlichen bis hin zum ehemaligen Papst. Erschreckend ist, dass es bei den meisten noch lebenden Verantwortlichen kein Unrechts- und Schuldbewusstsein gibt, dass relativiert wird, dass von römischen Instanzen nur zugegeben wird, was sich nicht mehr bestreiten lässt. Römischen Stellungnahmen mangelt es an Empathie, an Einfühlungsvermögen mit den Opfern.
Auf sogenannten Würdenträgern liegt plötzlich ein tiefer Schatten.
Bischof Kohlgraf schreibt: "Namen von versagenden Verantwortlichen, die jetzt genannt werden, waren für mich viele Jahre… immer auch Persönlichkeiten, die mein Kirchenbild geprägt haben. Kardinal Meisner hat mich zum Priester geweiht, er war jahrelang mein Bischof, auch wenn ich durchaus eine differenzierte Wahrnehmung seiner Amtsführung habe und hatte…. Kardinal Höffner aus Köln war für mich als Jugendlicher eine faszinierende Persönlichkeit. Er, der wegen seines Mutes während der Nazizeit ausgezeichnet wurde, steht heute in der Kritik wegen seines Verhaltens gegenüber Missbrauchsbetroffenen. Auch Bischofspersönlichkeiten sind komplex. Das gilt auch für den emeritierten Papst. Ich denke an den Weltjugendtag in Köln 2005 und die damalige Begeisterung. Es erschüttert …meinen Glauben, wenn auch ich heute wegen des augenscheinlichen Versagens kirchlicher Amtsträger kritisiert werde. Aus dem Stolz, für Jesus Christus unterwegs zu sein, ist bei mir immer wieder auch Scham geworden und der Wunsch, die Erde möge sich unter mir auftun…Für diese oft versagende Kirche muss ich als Bischof stehen, und das werde ich wohl noch viele Jahre tun. …ich will nicht verhehlen, dass ich mir auch Sorgen mache um die vielen Menschen, die jetzt wegen des Versagens in Mithaftung genommen werden und müde sind.
Ich will ihnen einfach sagen, dass ich manche kritische, wütende und erschöpfte Äußerung nur zu gut verstehen kann und auch Hilflosigkeit verspüre. Dennoch kann ich vor meiner Aufgabe nicht weglaufen, und ich bin dankbar für die vielen Menschen, die mich und sich gegenseitig im Glauben stützen. Es ist sicher nicht die Zeit der großen Moralpredigten seitens der Kirche, aber es bleibt die Aufgabe, das Evangelium zu leben…Und wir werden an Lösungen arbeiten müssen, den Betroffenen zum Recht zu verhelfen, mit ihnen zusammen und für sie."
Soweit Bischof Kohlgraf, der auch auf das noch laufende Aufklärungsprojekt zu sexuellem Missbrauch in unserem Bistum verweist.
Ein Wort des früheren Münchner Generalvikars Peter Beer, der sich gegen erbitterten innerkirchlichen Widerstand für eine umfassende Aufklärung eingesetzt hat, hat mich beeindruckt: "Die Kirche darf nicht länger Schonraum sein für Kleriker, die Angst vorm Leben, Angst vor Sexualität, Angst vor Nähe, Angst vor Verantwortung haben.
Wir müssen verstehen: Kritik ist nicht zu unserem Schaden, sondern Bedingung für einen Neuanfang. Es gibt keine Institution, die Menschen so hart beurteilt in ihrer Lebensführung wie die Kirche. Wir sind eben kein Sportverein, sondern stehen für die Gemeinschaft der Menschen mit Gott. Also müssen wir unsere hohen Maßstäbe auch an uns selbst anlegen."
Sicherlich, liebe Schwestern und Brüder , gibt es in der Kirche tagtäglich viel, sehr viel Gutes und aufrichtige gelebte Nächstenliebe und das Gebet, auch für die, die das Beten verlernt haben; es gab und gibt zu allen Zeiten der Kirchengeschichte Lichtgestalten und Kirchenleute, die anständig, zuverlässig in Freud und Leid Menschen zur Seite standen und stehen, aber es gibt in unserer Kirche auch das Überlegenheitsgefühl, besser zu sein als der Rest der Gesellschaft; über andere urteilen zu wollen, ohne je selber beurteilt zu werden; die Angst, das eigene Lebenswerk werde durch Kritik zerstört. Es gibt den Wahn, von Kirchenfeinden umzingelt oder gar die Illusion, unangreifbar zu sein.
Jesus hat in Kauf genommen, dass er in seiner Heimatstadt Nazareth nicht umjubelt wurde; er hat sich der Kritik ausgesetzt. Beten und bitten wir, Schwestern und Brüder, dass wir als Einzelne wie als Kirche im Ganzen uns von Jesus herausfordern lassen, kritikfähig zu sein,
zu Fehlern und Versagen zu stehen, demütig zu werden.
Bitten wir, eine liebevolle, mitfühlende Kirche mit Profil zu sein.
Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts. Amen.
(Pfarrer Thomas Catta, Predigt zum 4. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr C 30.01.2022, gehalten in St. Bartholomäus, Oppenheim - es gilt das gesprochene Wort)