So wie Kirchtürme in den Himmel ragen - hier das Freiburger Münster - so ist die Liturgie ein besonderer Ort der Kommunikation zwischen HImmel und Erde.
Der Wormser Domprobst Tobias Schäfer geht im Geistlichen Wort zur Broschüre "Kirchenmusik im Bistum Mainz" auf die Liturgie ein. Absolut lesenswert! Wir danken ihm für die Erlaubnis, den Text hier zu veröffentlichen.
Liturgie ist Begegnung zwischen Himmel und Erde
- Seit 1 ½ Jahren hören wir das nun schon so: Haltet euch an die Landesverordnungen, haltet euch an die diözesanen Dienstanweisungen und Anordnungen zur Feier der Liturgie, an die örtlichen Corona-Verordnungen! Anmeldungen zum Gottesdienst, nur beschränkte Teilnehmerzahl, Desinfizieren der Hände beim Betreten des Domes, Maske bis man am Platz ist. Kein Gesang, höchstens mal ein Antwortruf, vielleicht gerade noch das Sanktus. Und wenn Gesang, dann mindestens 3 Meter Anstand zwischen den Sängern, oder sind es vier? Eine Verordnung jagt die nächste. „Hört, damit ihr und alle anderen gesund bleibt! Ihr sollt dem Wortlaut nichts hinzufügen und nichts wegnehmen. Ihr sollt alle diese Verordnungen, Anweisungen, Gesetze, auf die ich euch verpflichte, getreu halten!“ Es ist verblüffend, wie aktuell die 3000 Jahre alten Worte der alttestamentlichen Lesung klingen - und in der Tat auch sind: Denn auch das mosaische Gesetz, die Thora enthält eine ganze Menge Regeln zur Hygiene und Gesundheit, zur Bewahrung vor Ansteckung mit Seuchen und Krankheiten, wie etwa der Lepra, dem biblischen Aussatz. Es ist nicht überliefert, ob es damals heftige Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der Gesetze gab, Demonstrationen gegen die mosaische Gesetzesdiktatur, Verschwörungstheorien nach dem Motto: Das ist doch alles nur ausgedacht, Lepra gibt es nicht und Händewaschen vor dem Essen ist völliger Schwachsinn. Und überhaupt: Woher nimmt sich Mose das Recht, dauerhaft unsere Freiheit so einzuschränken? Eher schwer vorstellbar, da doch das Gesetz nach der Überzeugung des Volkes Israel direkt von Gott kam. Aber dass es zu allen Zeiten viele nicht so wirklich ernst nahmen mit den Geboten, das verschweigt auch die Bibel nicht. Auch die drastischen Folgen nicht, die die Propheten regelmäßig als Strafe Gottes deuteten für den Ungehorsam des Volkes.
- Nun wird heute keiner das erneute Ansteigen der Inzidenzwerte für eine Strafe Gottes halten. Und bis auf ein paar Spinner wird hoffentlich auch keiner ernsthaft behaupten wollen, dass die Pandemie selbst eine Strafe Gottes, ein Gottesgericht sei. Aber was denkt sich Gott dabei – das ist ja schon eine Frage, die man stellen darf, vielleicht sogar muss. Auch wenn wir uns nicht anmaßen dürfen, Gottes Willen, seinen Heilsplan zu durchschauen, verstehen zu können. Das wird uns ja als Kirche bisweilen vorgeworfen, dass wir zu wenig Anstrengungen machen, die Pandemie auch theologisch zu deuten, den Menschen verstehen zu helfen. Was denkt sich Gott, dass er uns, die ganze Welt, eine solche Pandemie durchleben lässt, die ja auch elementar Auswirkungen auf unser Gottesdienstfeiern, unsere Liturgie hat? Monatelang haben wir überhaupt keine öffentlichen Gottesdienste mehr gefeiert, bestenfalls gestreamte Eucharistiefeiern, die manchmal ein Priester ganz allein, manchmal mit zwei, drei Auserwählten stellvertretend gefeiert hat. Dann waren erste Messen wieder möglich, mit massiven Einschränkungen. Wir haben auf einmal gespürt, wie sehr unsere Sakramente, auch die Eucharistie, von Berührung lebt. Wie sehr es den unmittelbaren Kontakt braucht. Für mich ist der Friedensgruß, so hygienisch korrekt er sein mag, der in einem freundlichen Zunicken aus der Ferne besteht, bis heute extrem befremdlich. Der steril abgedeckte Kelch. Die mit Mundschutz und bestens desinfizierten Händen ausgeteilte Kommunion; anfangs hier und da auch noch durch Plexiglasscheiben gereicht wie Anno dazumal die Briefmarken am Postschalter. Aber am befremdlichsten ist es nach wie vor, nicht gemeinsam singen zu können. Gottesdienst lebt von der Gemeinschaft, und nirgends wird das gemeinsam versammelt sein im Lobe Gottes so erfahrbar wie im gemeinsamen Singen.
- Es ist komisch: als am Anfang die Priester allein und stellvertretend für die Gemeinde die Eucharistie gefeiert haben, gab es heftigste, bisweilen auch ziemlich aggressiv geführte Diskussionen, ob das geht, ob das theologisch nicht völlig schräg ist, was für ein Verständnis dahintersteht. Ich fand diese Diskussionen wichtig; sie haben mir gezeigt, wie sehr wir Liturgie, Gottesdienst und Eucharistie oft sehr einseitig deuten: die einen vor allem als Gemeinschaftsmahl, als Begegnung mit dem Herrn in der Communio, also der Gemeinschaft. Und wenn Gemeinschaft nicht möglich ist, hört die Eucharistie auf Eucharistie zu sein, so überspitzt haben manche argumentiert. Für die anderen ist es zuerst das Opfer Christi, das vergegenwärtigt wird, und das seine Heilswirksamkeit auch entfaltet, wenn es eben nur vom Priester gefeiert wird. Wieder andere haben darauf hingewiesen, dass wir jede Eucharistie immer auch stellvertretend für die ganze Welt feiern und für die, die nicht dabei sind: im Hochgebet tragen wir regelmäßig stellvertretend alle vor Christus hin: Papst, Bischöfe, Priester, Diakone, alle, die in der Kirche zu einem Dienst bestellt sind – das sind übrigens auch alle Kirchenmusiker – die jeweils versammelte Gemeinde, Gottes ganzes Volk, ja alle, die ihn mit lauterem Herzen suchen und sogar die, die noch fern sind. Warum soll dieses alle stellvertretend vor ihn hintragen in Zeiten, in denen aus wichtigem Grund eine gemeinsame Feier in großer Gemeinschaft nicht möglich ist, plötzlich nicht mehr gelten? Ich selbst habe heftige Diskussionen mit Mitarbeitern und Mitbrüdern geführt, die den Begriff „stellvertretend Eucharistie feiern“ für absolut unmöglich hielten. Die als Priester lieber solidarisch mit allen anderen auf Eucharistie verzichtet haben als eine solche abfällig als „Privatmesse“ bezeichnete Eucharistie zu feiern. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass diese Diskussionen vielleicht weniger aggressiv und ideologisch geführt worden wären: die Diskussionen an sich waren wertvoll. Sie haben mir die unglaublich vielfältigen Dimensionen von Liturgie und Eucharistie bewusstgemacht.
- Später wurden solche Diskussionen leider kaum noch geführt. Etwa, welchen Wert die Musik für die Liturgie hat. In wie weit stellvertretendes Singen geht. Und so fort. Gerade das Fehlen des gemeinsamen Singens ist nach meiner Wahrnehmung von den Menschen mit am schmerzlichsten wahrgenommen worden. Umgekehrt ist uns allen dadurch wieder bewusst geworden, dass Singen, die Musik im Gottesdienst nicht bloß ein wenig Ornamentik ist, sondern wesentlicher Bestandteil der Liturgie, des Gotteslobes. Ich habe es beim Mittagsgebet schon gesagt: Musik hat in allen Religionen und Kulturen etwas göttliches, ist ein Türöffner zu jener anderen Dimension, zum Himmel. Und umgekehrt ein Türöffner, der unsere Herzen öffnet und empfänglich macht für die Berührung mit dem Göttlichen. Manchmal denke ich, vielleicht ist das auch etwas, das uns Gott durch diese Pandemie wieder neu bewusstmachen wollte: wie wir Gottesdienst feiern, was Gottesdienst, Liturgie bedeutet, und wie sehr wir auch die Musik brauchen, um Gott zu erfahren, um mit ihm zu kommunizieren.
- Aber zurück zur Bibel: so sehr Mose in der alttestamentlichen Lesung das genaue Befolgen aller Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften einschärft: dann kommt das Evangelium und Jesus, und der relativiert alles wieder. Seine Jünger halten sich nicht an elementare Vorschriften, essen – in Coronazeiten ein No-go - mit ungewaschenen Händen. Und statt, dass Jesus seine Jünger tadelt, stellt er die Gesetzeslehrer in die Senkel: Ihr Heuchler! Nichts was von außen kommt, kann den Menschen unrein machen! Wer jetzt aber meint, dass Jesus damit das Gesetz in Frage stellt, der irrt gewaltig. An anderer Stelle macht er deutlich: Kein Jota darf am Gesetz geändert, zurückgenommen werden! Nein, er relativiert, im wahrsten Sinn des Wortes. Er stellt das rechte Verhältnis wieder her. Es geht nicht um buchstabengetreue Auslegung, sondern darum, nach dem Sinn zu fragen. Die meisten Speisevorschriften etwa sind Hygienevorschriften, die das Ausbreiten von Keimen und Krankheiten verhindern wollen. Wo die Pharisäer aber so tun, als ob das Gesetz durch buchstabengetreue Befolgung gleichsam automatisch Reinheit, Frömmigkeit, Gottgefälligkeit vermittelt, wird es schräg. Das Gesetz ist nicht dafür da, dass wir durch die Befolgung in den Himmel kommen, sondern, dass wir leben; dass der Mensch heil und gut leben kann. Reinheit vor Gott dagegen kommt aus dem Herzen, hat mit inneren Haltungen zu tun – das macht Jesus deutlich. Unreinheit ist etwas anderes als dreckige Pfoten zu haben. Unrein wird der Mensch vor Gott durch ein verstocktes Herz, durch Selbstsucht, Egoismus, Neid, Lästerung, Besserwisserei, Unvernunft und so fort. Jesus hebt das Gesetz nicht auf, er relativiert es, er stellt es in die rechte Beziehung zum ursprünglichen Willen Gottes, der von uns Menschen so viel mehr will als bloß sauber Hände.
- So wie Jesus die Gesetze auf ihren ursprünglichen Sinn hin hinterfragt, so kann uns vielleicht ja auch die Corona-Pandemie, eine gründliche theologische, liturgische, auch kirchenmusikalische Reflexion über unsere Erfahrungen in dieser Zeit, helfen, dass wir wieder neu entdecken, wieder tiefer entdecken, was Liturgie bedeutet, wie sehr sie vom Miteinander lebt, wie sehr auch von der Erfahrung, die Musik, gemeinsames Singen, Antwortgesänge, Dialog, der Zusammenklang von Instrument und Mensch, das Hinhören aufeinander und das Singen, Beten, Lobpreisen miteinander schenken. Ich glaube, das könnte uns helfen, Liturgie umso intensiver zu feiern, umso tiefer als Begegnung zwischen Himmel und Erde, Gott und Menschen zu erfahren. Dann hätte die Pandemie, bei allem Schrecklichen, Bitteren, Leidvollen, das ich nicht verharmlosen möchte, auch etwas Gutes bewirkt.
- Und trotzdem: Ich hoffe sehnlichst, dass es endlich bald rum ist mit all den Verordnungen und Einschränkungen. Amen.
PROPST TOBIAS SCHÄFER, Worms
(Predigt im Abschlussgottesdienst des Kirchenmusiktags am 28. August 2021)