Schmuckband Kreuzgang

Stellungnahme von Bischof Peter Kohlgraf

Reaktion auf die Diskussion um Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Bischof Peter Kohlgraf
Datum:
Do. 27. Jan. 2022
Von:
Bischöfliche Pressestelle Mainz / Tobias Blum Mainz, 24. Januar 2022

Die Veröffentlichung des Gutachtens zum sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese Mün-
chen-Freising schlägt hohe Wellen. Diese Studie erhält nach anderen vorher eine besonders
hohe Aufmerksamkeit, weil auch das Verhalten des emeritierten Papstes Benedikt XVI. in
seiner Zeit als Erzbischof von München unter die Lupe genommen wird. Die Studie weist
ihm, wie anderen Erzbischöfen, Pflichtverletzungen nach. Seine 82-seitige Stellungnahme
stößt in der Öffentlichkeit auf großes Unverständnis, ja Empörung.

Mehrere Diözesen haben ähnliche Studien veröffentlicht oder in Auftrag gegeben, so auch
das Bistum Mainz. Dabei sind die Studien methodisch unterschiedlich angelegt: Es gibt
juristische, historische und andere Ansätze. Rechtsanwalt Ulrich Weber aus Regensburg
führt für die Studie zum Bistum Mainz mit dem Titel „Erfahren.Verstehen.Vorsorgen“
(EVV) in der Hauptsache Gespräche – mit Betroffenen, mit Zeuginnen und Zeugen, mit
Menschen, die etwas wissen. Daraufhin schaut er in die Akten und sieht, was sich dort an
Informationen abbildet oder eben nicht. Das systemische Umfeld des Missbrauchs wird
dadurch weiter gefasst als das Verhalten der Verantwortlichen im Bischofshaus oder im
Ordinariat. Die Verantwortlichen haben Beschuldigte oder Täter oft geschützt, aber auch
das Umfeld der Betroffenen hat aus Sorge um Gerede, das Ansehen des Priesters oder den
eigenen guten Ruf nicht immer angemessen reagiert. Ein solches Verhalten ist auch in vie-
len Familien, Verbänden oder Gruppen bis heute zu beobachten.

Diese Studien erfahren in den Medien hohe Aufmerksamkeit. Menschen wollen Verant-
wortliche benannt wissen, besonders wenn es um prominente Namen geht. Ich halte es
aber für notwendig darauf hinzuweisen, dass Studien nicht die Aufarbeitung sind; sie sind
ein Mosaikstein, aufzudecken, zu verstehen, und daraus Konsequenzen zu ziehen. In der
Berichterstattung kann man eine ansonsten oft kritisierte Fixierung auf die Täter anmerken.
Zumindest gegenüber dem Leid einzelner Betroffener ist die Berichterstattung über Täter
in der Kirche dominant. Genauso wie die Frage der Höhe des Geldbetrags der Anerken-
nungsleistung für erlittenes Leid nicht die ganze Aufarbeitung sein kann. Die mediale Öf-
fentlichkeit reduziert jedoch das sehr komplexe Thema der Aufarbeitung oft auf diese The-
men. Wenn diese die individuellen Lebenssituationen der Betroffenen in den Blick nehmen
soll, kann es damit nicht getan sein. Es ist unter anderem die Aufgabe der unabhängigen
Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz, diese Komplexität zu bearbeiten, im Hinblick
auf den einzelnen betroffenen Menschen, aber auch im Hinblick auf eine verlässliche und
transparente Intervention im Falle einer Beschuldigung, in Bezug auf Prävention, und
schließlich auch, eine angemessene Erinnerungs- und Mahnkultur zu entwickeln, die das
Leid nicht der Vergessenheit anheimgibt. Möglicherweise tauchen noch andere Themen
der Aufarbeitung auf.

Ich will nicht in dem Sinne Stellung nehmen, dass ich als Nichtbeteiligter über die versa-
genden Verantwortlichen urteile und Forderungen stelle. Diese stehen ja deutlich im Raum.
Ich will aber meine persönliche Betroffenheit erzählen, denn natürlich blieben die Erfah-
rungen der vergangenen Jahre auch mir als Bischof nicht in den Kleidern hängen. Namen von versagenden Verantwortlichen, die jetzt genannt werden, waren für mich viele Jahre,
bei aller Distanz, immer auch Persönlichkeiten, die mein Kirchenbild geprägt haben. Kar-
dinal Meisner hat mich zum Priester geweiht, er war jahrelang mein Bischof, auch wenn ich
durchaus eine differenzierte Wahrnehmung seiner Amtsführung habe und hatte. Aber wer
hat diese gegenüber mir als Bischof nicht? Kardinal Höffner aus Köln war für mich als
Jugendlicher eine faszinierende Persönlichkeit. Er, der wegen seines Mutes während der
Nazizeit ausgezeichnet wurde, steht heute in der Kritik wegen seines Verhaltens gegenüber
Missbrauchsbetroffenen. Auch Bischofspersönlichkeiten sind komplex. Das gilt auch für
den emeritierten Papst. Ich denke an den Weltjugendtag in Köln 2005 und die damalige
Begeisterung. Es erschüttert durchaus meinen Glauben, wenn auch ich heute wegen des
augenscheinlichen Versagens kirchlicher Amtsträger kritisiert werde. Aus dem Stolz, für
Jesus Christus unterwegs zu sein, ist bei mir immer wieder auch Scham geworden und der
Wunsch, die Erde möge sich unter mir auftun. Es gab Situationen in den vergangenen Jah-
ren, nicht nur im Hinblick auf den Missbrauch, wo ich Scheu hatte, mich öffentlich zu
zeigen. Für diese oft versagende Kirche muss ich als Bischof stehen, und das werde ich
wohl noch viele Jahre tun. Und selbstverständlich ist das Hauptproblem heute nicht die
persönliche Situation des Bischofs. Aber ich will nicht verhehlen, dass ich mir auch Sorgen
mache um die vielen Menschen, die jetzt wegen des Versagens in Mithaftung genommen
werden und müde sind. Ich will ihnen einfach sagen, dass ich manche kritische, wütende
und erschöpfte Äußerung nur zu gut verstehen kann und auch Hilflosigkeit verspüre. Den-
noch kann ich vor meiner Aufgabe nicht weglaufen, und ich bin dankbar für die vielen
Menschen, die mich und sich gegenseitig im Glauben stützen. Es ist sicher nicht die Zeit
der großen Moralpredigten seitens der Kirche, aber es bleibt die Aufgabe, das Evangelium
zu leben. Das tun viele, und ich will es mit ihnen tun. Und wir werden an Lösungen arbeiten
müssen, den Betroffenen zum Recht zu verhelfen, mit ihnen zusammen und für sie.

Als ich Bischof wurde, kommentierte eine große deutsche Tageszeitung, jetzt kämen die
profillosen Bischöfe aus der zweiten Liga. Tatsächlich hätte ich mich als durchaus solider
Theologieprofessor nie mit einigen dieser profilierten Personen verglichen. Die großen Bi-
schofspersönlichkeiten der ersten Liga spielten allerdings dort auch nicht vom ersten Tag
ihrer Weihe an. Viele Persönlichkeiten aus der sogenannten ersten Liga der Bischöfe sind
heute zumindest in ihrem Ansehen angekratzt. Sie können nicht mehr meine Vorbilder
sein. Und auch mir wird man in den Jahren in verschiedenen Feldern Versagen oder Unge-
nügen vorwerfen können. Die Kirche ist mehr als der Bischof. Und Bischöfe bleiben Men-
schen mit Fehlern. Mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern versuche ich redlich
meine Arbeit zu tun, dabei erlebe ich Grenzen, aber ich erlebe auch die Unterstützung vie-
ler, ohne die ich nicht Bischof sein könnte. Ich habe gelernt, dass mein Glaube und meine
Liebe zur Kirche nicht an den Menschen in der ersten Reihe und in der sogenannten ersten
Liga hängen kann. Mittlerweile scheint es mir auch theologisch gut zu passen, eine ordent-
liche Arbeit aus der zweiten Liga herkommend zu leisten, es mindestens zu versuchen.

In den Reaktionen auf das Münchner Gutachten wurde die Kirche kritisch kommentiert
(z.B. in der AZ vom 22. Januar 2022), und wir müssen uns diese Kritik gefallen lassen und
zu Herzen nehmen. Ja, eine Kontrolle der Kirche ist notwendig und findet auch schon statt. Manche Aussagen aus Politik und Rechtswissenschaft will ich aber nicht unkommentiert
lassen. So beispielsweise, dass man endlich die Kirche weltlichem Recht unterstellen soll.
Ich wundere mich: Natürlich untersteht die Kirche in vielerlei Hinsicht dem weltlichen
Recht. Wir unterstehen dem weltlichen Strafrecht, dem Steuerrecht, der rechtlichen Über-
prüfung unserer Schulen und Kitas und anderen Einrichtungen. Ein Strafrechtsprofessor
fordert die Überprüfung kirchlicher Trägerschaften von Kitas und Schulen. Allerdings: In
diesen Einrichtungen wird alles für die Sicherheit der Kinder und Jugendlichen getan. Man-
che Äußerung hat auch einen durchaus populistischen Zungenschlag. Eltern wählen ja nicht
ohne Grund unsere Kitas und Schulen. Vielleicht sollten sie eine derartige Forderung auch
einmal kommentieren. Die heftigen Reaktionen auf die Trägerabgabe weniger Schulen im
Bistum Mainz zeigen jedenfalls, dass die Eltern die Situation anders einschätzen als der
genannte Rechtsprofessor. Der Missbrauch sei keine innerkirchliche Angelegenheit mehr,
so eine andere Stimme aus der Politik. Dies ist er längst nicht mehr, es gibt klare Leitlinien,
diese kann man nachlesen. Sie werden verbindlich eingehalten. Die Strafverfolgungsbehör-
den müssten die Fälle innerhalb der Kirche konsequent verfolgen, heißt es. Als Bischof
kann ich das nur unterstützen. Wir sind dankbar für jeden Fall, in dem die Staatsanwalt-
schaft ermittelt. Die Süddeutsche Zeitung vom 22. Januar 2022 weiß jedoch zu berichten,
dass dies seitens der staatlichen Gewalt in manchen Fällen nicht geschehen ist, und nicht
deswegen, weil die Kirche vertuscht hat. Das kirchliche Recht ersetzt nicht das weltliche
Strafrecht. Aber in verjährten Fällen greift das Recht nicht, genauso wie es Beschuldigungen
gibt, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Dann steht ein Beschuldigter vor mir, der
staatlich nicht verurteilt wurde. Das Kirchenrecht hilft mir, geeignete Disziplinarmaßnah-
men zu setzen, die der Staat nicht kennt. Bei verstorbenen Beschuldigten oder Tätern greift
das Strafrecht ebenfalls nicht. Eine Verjährung kennt das Kirchenrecht dem Strafrecht ge-
genüber nicht. Das betrifft einen beträchtlichen Teil unserer Fälle.

Und es gab Stimmen, dass die Kirche es nicht schaffe, die Aufarbeitung zu leisten. Es ist
tatsächlich mühselig, auch für die Betroffenen. Die Kritik kommt durchaus an. Aber ich
kenne keine Großinstitution, an der ich mich orientieren könnte. Ich musste an die Wahr-
heitskommissionen in Südafrika denken. Vielleicht wäre so etwas eine Hilfe auch hierzu-
lande. Aber das braucht Zeit. Haben wir die? Ich als Bischof kann nicht warten, bis hier
eine Lösungsmöglichkeit gefunden wurde. Und der Staat müsste dann die Betroffenen aller
gesellschaftlichen Bereiche in den Blick nehmen, nicht nur die der Kirche. Und dann müss-
ten für alle Betroffenen angemessene Lösungen einer möglichen Befriedung gefunden wer-
den. Wir würden uns, glaube ich, wundern, was dann zutage tritt. Das wäre eine Mammut-
aufgabe für viele Jahre. Ich lade alle ein, sich auf unserer Homepage regelmäßig über unser Maßnahmen zu informieren. Es stagniert keineswegs, selbst wenn nicht alles perfekt läuft.
Ich kann nur um Vertrauen bitten, und dass wir bei allen Fragen im Respekt voreinander
bleiben und weitergehen.