Diese Gestalt ist eine Anlehnung an das alttestamentliche Offenbarungszelt, das dem Volk Israel als Ort der Gottesbegegnung in der Wüste diente (vgl. Ex 35ff.). Nach der Inbesitznahme des Gelobten Landes wurde es durch ein festes Gebäude, den Tempel in Jerusalem, ersetzt. Dessen innerster Raum, durch einen Vorhang von allen anderen Gebäudeteilen abgesondert, war das „Allerheiligste“. Dieser Raum war leer, er verkörperte aber gerade dadurch eindrucksvoll die unsichtbare Gegenwart Gottes. Unmittelbar nach dem Tod Jesu riss nach Ausweis mehrerer Evangelisten eben dieser Vorhang „von oben bis unten entzwei“ (Mt 27, 51; Mk 15, 38; Lk 23, 45).
Auch der Mittelteil des Altarraums unserer Kirche kann als geöffneter Vorhang verstanden werden. Die bunten Glasbausteine, die diesen symbolisieren, treten hier neben einer weißen Wand deutlich zur Seite. Im Zentrum steht die Figur des Gekreuzigten in einer außergewöhnlichen Darstellung.
Einerseits ist dessen Leiden unübersehbar. Die spitze Dornenkrone und die scharfkantigen Nägel treten deutlich hervor. Gleichzeitig geht von ihr jedoch ein tiefer Friede aus.
Bemerkenswert ist auch der Leibrock, den Jesus trägt. Es ist nicht das klassische Schamtuch, mit dem man ihn sonst am Kreuz abbildet. Ich habe lange über diese Darstellung nachgedacht und meine: Es ist eine Tunika, wie sie im Altertum die Sklaven trugen! Wer würde da nicht an den Text des Paulus erinnert, dass sich Jesus für die Menschen „wie ein Sklave“ erniedrigt habe (Phil 2, 7)? Diese Darstellung legt damit die Kernbotschaft der ganzen Passionsgeschichte frei. Hier gibt es zum einen eine menschliche Perspektive, nämlich die restlose Hingabe des Menschen Jesus an seine Sendung. Selbst als es für ihn gefährlich wird, bleibt er ihr treu und geht seinen Weg zu Ende, auch wenn dort das Kreuz steht. Zugleich begegnet uns hier auch ein Blick von Gott in Richtung Mensch. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hat ihn so beschrieben „Bisher war Gottes Gesicht verhüllt gewesen... Jetzt hat Gott selbst den Vorhang weggenommen, sich im Gekreuzigten als der bis in den Tod hinein Liebende gezeigt. Der Zugang zu Gott ist frei“ (Jesus von Nazareth, Bd. II, Freiburg 2010, 233). Beides verbindet sich in der Person Jesu und gibt uns so einen Zugang zu seinem Geheimnis.
Lassen wir dieses Kreuz zu uns sprechen – und kommen wir ins betrachtende Gespräch mit ihm.